Für einen Samstag ist an diesem Nachmittag ganz schön viel los am Ernst-Mach-Gymnasium (EMG) in Haar. Schon von außen durch die Glastüren sieht man Schülerinnen und Schüler umhereilen. Drinnen werden letzte Kabel verlegt, Scheinwerfer getestet. Nebenher hält die Oberstufen-Theatergruppe auf der Bühne in der Aula ihre Generalprobe für eine Aufführung des aktuellen Stücks „Erwin Olaf Re:Works“; auch hier wird konzentriert gearbeitet. Zwischen Szenen rufen sich die Darsteller und Techniker Regieanweisungen zu und beratschlagen über letzte Änderungen. Wer steht in der Choreografie rechts, wer links? Wann kommen Musik- und Lichtwechsel, warum hängt der Vorhang nicht so, wie er soll? „Leute, wir haben nicht mehr viel Zeit!“, mahnt jemand. Anspannung ist spürbar – bis zur Aufführung sind es nur noch wenige Stunden.
Dieser Samstagabend ist ein besonderer, denn in gewisser Weise feiert die Theatergruppe ein Jubiläum. „Vor zehn Jahren haben wir angefangen, die konventionellen Wege zu verlassen“, sagt Leiter Thomas Ritter. Er habe sich mit seinen Schülern am EMG mal an eine neue Art der Spielweise heranwagen wollen. Die Schule kann auf fast vier Dekaden des klassischen Steh- und Sprechtheaters zurückblicken, nachdem der damalige Deutsch- und Geschichtslehrer Hans-Peter Schmidt im Schuljahr 1978/79 erstmals eine vierköpfige Gruppe gründete und mit ihnen das Stück „Die kahle Sängerin“ von Eugène Ionesco inszenierte.
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In einem Neufindungsprozess hätten er sowie seine Schülerinnen und Schüler viel ausprobiert und sich schließlich im experimentellen Theater wiedergefunden, sagt der Deutsch- und Geografielehrer Ritter. Diese Form sei geprägt durch eine Mischung aus körperlicher Arbeit, Bildern, Ästhetik und Schauspiel, die sowohl bei den jungen Darstellern als auch beim Publikum „Denkprozesse auslösen und kreative Grenzen überschreiten“ könne. Im Rampenlicht stehe vor allem der künstlerische Prozess selbst, denn es gehe darum, in unkonventionellen Inszenierungen neue Ausdrucksformen und Weltbilder zu erforschen. „Die Kinder können dabei eine echte Erfahrung machen, die sie in Grenzbereiche bringt und sich selbst dabei in einer anderen Form der Wahrnehmung erleben“, sagt Ritter.
Sein Theater sei bestimmt von der körperlichen und sprachlichen Kraft der jungen Darstellerinnen und Darsteller, die sich in monate-, manchmal jahrelangen Recherche- und Probephasen intensiv mit den Themen ihrer Aufführungen auseinandersetzten. Die Szenen gestalteten die Schüler nach ihren eigenen Vorstellungen. Gleiches gelte für die selbst gemachte „Mixtur“ aus verschiedenen ästhetischen Elementen, etwa Projektionen sowie Ton-, Film-, Musik- und Lichteffekte, um die Handlungen auf der Bühne zu untermalen. Die Texte und Spielweisen ähneln dabei oft den literarischen Elementen des Dadaismus und Surrealismus – Kunstbewegungen, die das Absurde und Unkonventionelle betonen. Die Verfremdung, der bewusste Bruch mit der Realität, solle die Zuschauer staunend und nachdenklich zurücklassen. „Theater soll einen Moment des Innehaltens erwirken und etwas anstoßen“, erklärt Ritter. „Das wollen wir schaffen. Und manchmal gelingt es uns, auch wenn es nicht unbedingt immer eine einfache Form von Theater ist, die wir zeigen.“
Das Experimentelle ist mittlerweile die kreative Signatur des EMG-Theaters. Es hat sich damit nicht nur im Landkreis München, sondern bundesweit und sogar international einen Namen gemacht. Die Themen sind oft anspruchsvoll – auch das beeindruckt. In einem ihrer ersten großen experimentellen Projekte, dem Stück „Spurensuche“, etwa, nahmen die Gymnasiasten ihr Publikum mit durch die Geschichte der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, wo zwischen 1940 und 1945 rund 3000 geistig und körperlich behinderte Patienten der systematischen Tötung durch die Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Für die Inszenierung hatten sie an Gedenkstätten und Archiven recherchiert und sogar Zeitzeugen interviewt. Das Stück gewann 2016 den dritten Preis des Theater-Wettbewerbs „Andersartig gedenken – on stage“, wurde seither über hundertmal gespielt und sogar für Aufführungen im Ausland ins Englische übertragen.
Viel Beifall gab es zudem für das Stück „Sophie“, eine emotionale Auseinandersetzung der Theatergruppe mit der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Die Uraufführung aus Anlass von Scholls 100. Geburtstag fand im März 2021 coronabedingt nicht auf der EMG-Bühne, sondern auf dem Münchner Königsplatz statt, und schaffte es von dort in die Hauptnachrichten von ARD und ZDF. In diesem Jahr war das EMG zudem mit „Erwin Olaf Re:Works“ bei den Berliner Festspielen zu Gast, ein „theatraler Ausstellungsspaziergang“ durch die Kunstwerke des jüngst verstorbenen niederländischen Fotografen Erwin Olaf.
„Das Theater ist mit Sicherheit ein Vorzeigeprojekt des EMG, denn es ist durchaus etwas Ungewöhnliches für eine Schule, auf so einem Niveau Theaterarbeit zu gestalten“, sagt Schulleiterin Gabriele Langner. Das erkläre auch die „große Unterstützung“ und die Freiheiten, die das Rektorat und die Lehrkräfte des EMG dem Projekt geben. Zwischen sechs und acht Wochenstunden würden dem Theater während der Unterrichtszeit zur Verfügung gestellt. Außerdem habe man in den vergangenen Jahren viel in die Bühnentechnik und „externes Personal“ investiert. Möglich sei das nur durch Sponsoren wie die Haarer Bürgerstiftung und die Weiße-Rose-Stiftung München.
Im Gegenzug stecken Schüler und Lehrer viel Freizeit und Herzblut in die Projekte, die über die vergangenen zehn Jahre am EMG herangewachsen sind. „Zusammen etwas von Anfang an zu kreieren und mit unserer typischen EMG-Theater-Atmosphäre zu arbeiten, geht nur, wenn man ganz eng verbunden ist und sich fallen lassen kann“, sagt Zehntklässlerin Tomma. „Es fließt so viel Kreativität, die einfach aus uns rauskommt, und dabei entsteht ein ganz toller Prozess.“ Ihnen allen sei bewusst, dass sie mit ihren Stücken „etwas Besonderes“ gestalten, glaubt auch ihre Mitschülerin Grete: „Unser Stil ist geprägt von uns selbst, von unseren eigenen Szenen, die wir entwickeln. So bekommen wir einen ganz neuen Bezug zu unseren Themen und sind viel besser auf der Bühne.“
„Diese Erlebnisse in der Schule haben einen sehr großen Eigenwert“, ist auch Lehrer Thomas Ritter überzeugt. „In den letzten Jahren war für mich wunderbar, dass wir diese unterschiedlichen Ansätze und Experimente durchführen konnten und damit an der Schule ernst genommen wurden.“ Das habe ihn – und mittlerweile eine ganze Generation von Gymnasiasten – nachhaltig geprägt.