SZ-Kulturpreis Tassilo:Revolutionärer Generalangriff auf die Sinne

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Die aufwendigen Kostüme fertigen die Mitglieder von "Blue Art" Garching alle selbst an, hier Amelie Baumhöfener als Piratin der Tiefsee in "Wellenreiter". (Foto: Blue Art e.V.)

Mit ihrem Verein Blue Art aus Garching hat sich Christiane Gimkiewicz eine eigene Bühnenform geschaffen: Ihre "Cinecals" verbinden selbst geschriebene Musik, Theater und großflächige Projektionsaufnahmen.

Von Irmengard Gnau, Garching

Eine riesige Welle baut sich im Hintergrund der Bühne auf, steigt bis zu ihrem höchsten Punkt, um dann gischtspritzend zu brechen und sich gefühlt über das Publikum im Bürgersaal in Garching zu ergießen. Nasse Füße bekommt dabei natürlich niemand. Mit der Welle bricht auch der Applaus los. Er gilt den Darstellern auf der Bühne, die soeben ihren Schlussakkord verklingen lassen. Im Oktober 2022 war es endlich soweit, das Team von "Blue Art" aus Garching konnte sein Stück "Wellenreiter" nach dem Abklingen der Corona-Pandemie in einem großen, atmosphärisch angemessenem Rahmen aufführen (ein Mitschnitt ist hier zu sehen). Die Zuschauer ließen sich von den mehr als 25 Darstellern mitnehmen in eine farbenprächtige Unterwasserwelt und überwältigen von den Aufnahmen auf der etwa 170 Quadratmeter großen Leinwand, vor der die Schauspieler agieren.

Christine Gimkiewicz ist die Zufriedenheit anzuhören, wenn sie sich an diese Wiederaufnahme - quasi eine nachgeholte Premiere - ihres Erstlings erinnert. Zwei Jahre lang, seit der Vereinsgründung 2018, haben die Mitglieder intensiv an dem Stück "Wellenreiter" gearbeitet, bevor sie es 2020 erstmals öffentlich präsentierten, allerdings - zu Hochzeiten der Pandemie - unter limitierten Bedingungen. In Gimkiewicz Kopf existieren die Lieder und Szenen freilich schon viel länger. Die 53-Jährige hat sich von Kindesbeinen an der Musik verschrieben; die Enkelin einer Opernsängerin und eines Kapellmeisters bekam Gesangs- und Tanzunterricht, sang in Gruppen von Punkrock bis Chor und begann früh, eigene Songs zu komponieren. Im Hauptberuf entschied sich Gimkiewicz hingegen, nach einer Ausbildung zur Damenschneiderin, letztendlich für die Technik. Sie studierte Elektrotechnik, promovierte schließlich im Fach optische Nachrichtentechnik.

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Ein Hintergrund, den die Garchingerin auch in ihr kreatives Schaffen integriert und der das Ergebnis zu etwas Besonderem macht. Gimkiewicz kombiniert klassisches Musical-Theater, live auf der Bühne gespielt und gesungen, mit cineastischen Effekten. Dazu nutzt Blue Art das Prinzip des Greenscreens: Auf einer riesigen Leinwand im Hintergrund der Bühne bilden eigens gedrehte Videosequenzen die filmische Kulisse für die Darsteller, im Fall von "Wellenreiter" beeindruckende Unterwasseraufnahmen, die Vereinsmitglieder unter anderem in einem gefluteten ehemaligen Braunkohletagebau tauchend aufgenommen haben. "Cinecal" nennen sie diese Form. Im besten Fall verschwimmen Hintergrund und Vordergrund zu einem beeindruckenden Effekt.

Christiane Gimkiewicz hat den Verein "Blue Art" Garching ins Leben gerufen. Die Elektrotechnikerin, promoviert im Fach optische Nachrichtentechnik, ist auch ein musikalisches Multitalent. (Foto: Helmut Soeder)

Der Erfolg von "Wellenreiter" bringt Blue Art freilich nicht dazu, sich zurückzulehnen; im Gegenteil, sie stecken schon mitten drin in den Arbeiten für das nächste Stück. Darin stellt das Team aus etwa 40 Menschen rund um die Autorin, Regisseurin und Projektleiterin seine große Motivation und Ambition wieder unter Beweis. Die ersten Kostüme sind bereits geschneidert, Tanz- und Gesangsworkshops mit professionellen Trainern stehen auf dem Programm. Für die Videosequenzen haben die Vereinsmitglieder riesige Vogelgestelle gebaut, in denen Darsteller an einer Aufhängung an der Decke befestigt den Krähenflug simulieren.

Live-Performance vor der Kulisse cineastischer Effekte. (Foto: Stephan Rumpf)

"Wir wollen das, was wir bei ,Wellenreiter' gelernt haben - dramaturgisch und für die Projektionstechnik, jetzt auf unser neues Stück anwenden", sagt Gimkiewicz. "Herzstillstand" heißt es und beschäftigt sich mit der Frage, wohin die fortschreitende Digitalisierung und Technisierung die Menschheit bringen wird. Im Fokus steht dabei eine Gruppe von fünf Musikern, die sich nach einem Zufall in der Zukunft wiederfinden - einer Zukunft, die mit ihren verbrauchten Industrielandschaften atmosphärisch an Steam-Punk erinnert. Im harten Kontrast dazu stehen die letzten Waldflächen, "das letzte grüne Reservoir, das es zu retten gilt", wie Gimkiewicz sagt.

Multimediatheater Blue Art (Landkreis München). (Foto: Blue Art e.V.)

Der Umweltgedanke ist ein Leitthema in den Stücken der Gruppe, auch wenn die Bewahrung der Schöpfung dem Publikum nicht mit erhobenem Zeigefinger unter die Nase gerieben wird. Im "Wellenreiter" ging es um die Meere, nun steht der Wald im Fokus von Blue Art. Dabei wird "Herzstillstand" aber einen witzigen Ton verfolgen, kündigt Gimkiewicz an. Sicher sein darf man, dass die Vereinsgründerin auch in diesem Stück die Gelegenheit nicht verstreichen lassen wird, ihre eigene Spiel- und Gesangsfreude auszuleben. In "Wellenreiter" hatte sich die Autorin und Regisseurin eine Rolle selbst auf den Leib geschrieben. Als mächtige Seehexe Luciana in furchteinflößender Maske wütete sie mit mächtiger Stimme über die Bühne, im Bestreben, das ganze Land zu überfluten. In welcher Rolle sie in "Herzstillstand" zu sehen sein wird, ist noch nicht ganz klar, wie überhaupt das ganze Stück noch in der Entwicklung begriffen ist. Die ersten Auftritte plant Blue Art derzeit für Ende des Jahres 2024.

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