Da steht sie nun also in der Stadtbücherei vor einem ihrer reliefartigen Textilbilder, diese Judith Siebenschuh, und erzählt, dass der Stoff ein Jahr lang in der Erde ihres Gartens vergraben war, ehe sie ihn auf Platte spannte und mit Goldfarbe überzog. Weil sie einfach wissen wollte, was Gartenerde so anstellt mit dem Stoff. Zeit ist offenbar eine relative Größe im Leben der Garchinger Künstlerin, die ihre Arbeiten nun nach mehr als 30 Jahren erstmals wieder präsentiert. Wer sich seinerseits ein wenig Zeit nimmt für die gut 50 Exponate der Ausstellung, der wird der Künstlerin nicht nur ein ausgeprägtes Interesse an der Natur attestieren. Der denkt sich womöglich auch: Warum, bitte schön, hat Judith Siebenschuh ihre vielfältige Kunst der Öffentlichkeit so lange vorenthalten?
Skulpturen mit sinnlichen Formen, Kollagen mit handgeschöpftem Papier, detailreiche Zeichnungen mit Fineliner, die an die Kapseln oder Samen einer Pflanze erinnern, filigrane Geäste aus schwarzen Linien, die bei Siebenschuh frei und spontan über das Papier wachsen dürfen. "Ich fange einfach an, dann mache ich einen Strich, und dann weiß ich: Aha, hier geht es weiter", erklärt die Künstlerin.
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"Bilder und Skulpturen" lautet der Name ihrer Ausstellung in der Garchinger Stadtbücherei (bis 5. Dezember), es ist Siebenschuhs erste Einzelausstellung. Im November werde sie 75 Jahre alt, die eigene Ausstellung sei quasi ihr Geburtstagsgeschenk. Judith Siebenschuh wuchs in einem kleinen Dorf in Rheinland-Pfalz auf. 18 Häuser, ihr Vater war Lehrer der Schule mit nur einer Klasse. Es ist eine Kindheit im Wald und auf den Wiesen, wo sie Tiere und Pflanzen beobachtet. Gräser und Hölzer werden ihr damals zu ersten Pinseln werden. 1978 zieht sie nach Garching, in den Achtzigerjahren stellt sie ihre Arbeiten gemeinsam mit einigen Ismaninger Künstlerinnen im Bürgerhaus Ismaning aus. Als sie in den Schuldienst eintritt, um Textiles Gestalten an Grundschulen zu unterrichten, musste sie in der Kunst dann allerdings kürzer treten.
Mit dem Ruhestand beginnt eine neue Phase der Produktivität. Strukturen und Formen haben es Judith Siebenschuh angetan. Oftmals erheben sich ihre Bilder zu wellenartigen Reliefs, werden Brüche und Risse sichtbar, die makellose Glätte liegt ihr nicht. Sie schneidet, fädelt, schichtet, drapiert, klebt, malt und zeichnet, ohne dabei einem konkreten Plan zu folgen. Und manchmal, etwa im Fall der Porträts, die sie von ihren beiden Großmüttern gefertigt hat, schließt sie beim Zeichnen die Augen, gibt die Kontrolle ab und löst sich von der konkreten Vorstellung, die das Sehen beinhaltet.
"Damit meine Hand frei arbeiten kann", wie sie das ausdrückt. Überhaupt ist diese Künstlerin irgendwie anders, das wird schnell klar beim Gang durch Siebenschuhs Ausstellung: Wo andere sich auf die Schulter klopfen würden, gibt sie sachdienliche Informationen zu Werkstoffen und Techniken. Ansonsten lässt die Garchingerin ihren Bildern - die im Übrigen keine Titel tragen - den Vortritt. Die Allrounderin mit dem Faible für Naturmaterialien bewegt sich zwischen Textilien, Grafit, Pigmenten, Aquarellfarbe, Holz und Papier, das sie selbst schöpft, wie man eher zufällig erfährt. Eine Frau, die die Linien schön findet, die 75 Jahre Leben in ihren Händen hinterlassen haben. Eine Künstlerin, die tief berührt scheint von den Prozessen der Natur, und ja, auch von der Vergänglichkeit der Dinge.
Mit Kreide in Brauntönen hat Siebenschuh etwa eine Amaryllis gezeichnet, die bereits am Verwelken war. Und man möchte sich lieber nicht ausmalen, wie lange es gedauert hat, eine komplette Collage aus getrockneten Rosenblättern zu fertigen. Doch manchmal ist Zeit eben die entscheidende Zutat in der Kunst. Das hat wohl kaum jemand so konsequent verinnerlicht wie Judith Siebenschuh: Im lichtdurchfluteten Lesegarten der Stadtbücherei hängt eine besonders eindrucksvolle Arbeit von ihr, und wäre man ein Designer in einem urbanen Loft, würde man dem Werk wohl einen Used-Look bescheinigen. Siebenschuh hat die Splitter ihrer alten Holztür kreuz und quer übereinander drapiert und anschließend mit Schwarz und Gold bemalt. Mit ruhiger Stimme erklärt sie: "Die Jahre haben dann wieder Farbe weggenommen."