Kreis und quer:Gefundenes Fressen

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Die Maskenpflicht fällt und Menschen begeben sich in Gefahren, die der Neandertaler wohl gemieden hätte.

Kolumne von Michael Morosow

Neandertal im Jahr 40 000 Jahre v. Chr.: Seit Tagen trauen sich Höhlenbewohner nicht ins Freie, weil draußen ein hungriger Säbelzahntiger umherstreicht. Dann aber ändert sich die Situation insofern dramatisch, als plötzlich drei hungrige Säbelzahntiger vor der Grotte auftauchen. Jetzt sei die Zeit gekommen, wieder die alten Freiheiten zurückzugewinnen, sagt der Anführer und erklärt den Höhlen-Arrest für beendet. Ist natürlich nur eine unrealistische Fiktion, denn der Neandertaler mag zwar ein kleineres Hirn gehabt haben als der moderne Mensch, aber so blöd war er auch wieder nicht, ausgerechnet dann vor die Grotte zu treten, wenn sich die Gefahr, gefressen zu werden, augenscheinlich verdreifacht hat.

Bayern im April 2022: Zwei Jahre lang schon wurden die Menschen per staatlichem Dekret zum Tragen einer Maske verpflichtet, weil draußen ein Virus mit tödlicher Schlagkraft lauert und seit seinem ersten Auftreten bis heute schon knapp 23 000 Bewohner des Freistaates vom Leben in den Tod befördert hat. Das sind mehr, als die Gemeinde Ottobrunn Einwohner hat. Jetzt hat sich die Situation insofern verändert, als die Inzidenzzahlen seit geraumer Zeit so richtig durch die Decke schießen und nunmehr den Höhepunkt erreicht haben sollen. Jetzt sei die Zeit gekommen, den Menschen wieder die alten Freiheiten zurückzugeben, befinden Berlin und die Bayerische Staatsregierung und heben die meisten Corona-Regeln auf, so etwa die Maskenpflicht in Schulen, Handel und Freizeiteinrichtungen. Von Sonntag an kann jeder selbst wählen, ob er eine Maske tragen will oder nicht. Die Gesellschaft wird sich nun also teilen in Zeitgenossen, die jetzt tief aufatmen, und welchen, die sich jetzt gerne in eine einer Höhle verkriechen würden.

Einige Kleinkinder werden womöglich zum ersten Mal Oma, Opa und die Verkäuferin im Supermarkt ohne Maske sehen. Kann das ihrer Entwicklung schaden? Vor allem: Wie wird sich der homo sapiens entscheiden? Soziologe Andreas Diekmann spricht von einem großen Sozialexperiment und prophezeit, dass in Bälde die wenigsten eine Maske tragen und die Infektionszahlen wieder nach oben schnellen werden. Für einen Abgesang auf die Gesichtsbinden wäre es demnach also ein wenig zu früh. In jedem Fall wird die Umstellung auf blanke Gesichter nicht von heute auf morgen gehen, denn irgendwie hängt man den Dingern schon auch ein wenig nach. Sie schützen bei Kälte und Wind, schirmen einen nicht nur vor Viren ab sondern auch vor unangenehmen Düften und miesen Gesichtern. Und es ist doch auch so, dass man sich inzwischen nackt fühlt in der Öffentlichkeit ohne Gesichtsmaske und deshalb stets mehrere dieser Dinger am Arbeitsplatz, im Auto und zuhause gebunkert hat.

An diesem Sonntag also beginnt das Sozialexperiment, an dem im Landkreis München circa 350 000 Menschen teilnehmen. Landrat Christoph Göbel (CSU) spricht von einer Verantwortung eines jeden für sich selbst, belässt es vorerst aber bei der Maskenpflicht im Landratsamt. In einem Land, das zwar keinen Säbelzahntiger, aber einen Löwen im Wappen hat, eine weise Entscheidung.

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