Atomenergie:Mutter Courage und ihr Kampf gegen den Reaktor

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Garching: Ingrid Wundrak (Mitte) bei einer Demo gegen den neuen Atomreaktor in Garching (Foto: Claus Schunk)
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Von Gudrun Passarge

Die Zeiten, da sich der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber über die "Hausfrau" Ingrid Wundrak aufgeregt hat, sind schon lange vorbei. Die Grünen-Politikerin, die noch heute im Garchinger Stadtrat sitzt, kämpfte damals an vorderster Front gegen den Bau der Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz, kurz FRM II. Vergebens. Der große Bruder des im Juli 2000 abgeschalteten Garchinger Atomeis steht und die Technische Universität bezeichnet ihn heute als modernsten Forschungsreaktor weltweit. Wundrak selbst nennt es rückblickend trotzdem eine "aufregende Zeit", in der sie viele interessante Menschen kennengelernt habe.

Das Atomei gehört zu Garching, es hat 1967 sogar Eingang ins Wappen gefunden. Es war der erste nukleare Anlage in der Bundesrepublik. Auf Initiative von Werner Heisenberg wurde sie damals mit Hilfe des Atomministers Franz-Josef Strauß und dem bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (SPD) in Rekordzeit genehmigt und gebaut. 1957 stand sie einsam auf dem Feld an der Isar neben dem 3000-Einwohner-Dorf.

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Widerstand? Nicht in Garching. Dort wurde es als Chance gesehen, in ein neues Zeitalter einzutreten. Das gelang insofern, dass aus dem einstigen Dorf inzwischen eine Universitätsstadt geworden ist, dass sich zu Landwirten viele Wissenschaftler gesellten und heute Menschen aus unterschiedlichen Ländern in Garching leben. Diese Veränderungen waren auch Anfang der Neunzigerjahre schon spürbar, als die Pläne der TU, einen Nachfolgerreaktor für das Atomei zu bauen, bekannt wurden. Tschernobyl war noch nicht so lange her und die Grünen als neue Partei stellten kritische Fragen, auch in Garching, wo es seit 1989 einen Ortsverband gab. Für Wundrak wurde es ernst, als der Physiker und Mitbegründer der Garchinger Grünen, Hans-Martin Adorf, nach Amerika ging, "von ihm habe ich den Auftrag bekommen, mich darum zu kümmern", erzählt Wundrak. Und das tat sie.

Der gelbe Schirm ist schnell aus dem Keller ihres Garchinger Reihenhauses geholt. "I mog koan Reaktor", prangt in schwarzer Schrift darauf. Mit diesen Schirmen waren die Reaktorgegner auf Einladung des Ismaninger Grünen-Kreisrats Alfred Fischer damals bei ihren Sonntagsspaziergängen rund um die Reaktorbaustelle unterwegs. "Kleine Nadelstiche", nennt Wundrak diese Aktionen, die immerhin den Verfassungsschutz aktiv werden ließen, der die Gruppe beobachtete, wie sie bei einem späteren Gerichtsverfahren gegen Fischer erfuhr.

Die Kritik der Gegner bezog sich nicht nur auf die Sicherheit von Kernkraft, sondern vor allem auch auf die Tatsache, dass der neue Forschungsreaktor mit hochangereichertem Uran arbeiten sollte, ein Stoff, der atomwaffentauglich ist. Eine Tatsache, die übrigens auch in Amerika Kritik auslöste. Wundrak erzählt von Demonstrationen, Aktionen, der Zeitung "Kuckucks-Ei", die der Verein "Bürger gegen Atomreaktor Garching" herausgab, Podiumsdiskussionen mit Strahlenmedizinern und anderen Fachleuten. "Wenn wir eine Demo gemacht haben, haben sie uns immer diffamiert als Hausfrauen, Rentner und Studenten." In dieser Zeit habe sie jedoch viel dazugelernt. Zum Beispiel, dass drei Personen und ein Transparent eine Demonstration darstellen, die angemeldet werden muss.

Ingrid Wundrak, eine alte Kämpferin gegen den Reaktor in Garching. (Foto: Alessandra Schellnegger)

So standen sie und ihre Mitstreiterin Helga Leibold mit ihrem Transparent vor der Hauptversammlung der Siemens AG, die als Ausrüster und Generalunternehmer des Bauprojekts firmierte. Das wäre noch erlaubt gewesen, aber ein Mann, den sie nicht kannten, suchte das Gespräch, schon seien sie von der Polizei eingekesselt worden. Ruth Paulig, die damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, habe sie "gerettet". Angeklagt wurden sie trotzdem, verteidigt vor Gericht hat sie Susanna Tausendfreund, die heutige grüne Bürgermeisterin Pullachs. "Das sind aber alles Sachen, die man als normaler Bürger nicht weiß", sagt Wundrak.

Sie erzählt auch von Repressionen, die Mitarbeiter der TU fürchteten, wenn sie sich öffentlich gegen den Reaktor äußerten. Wundrak hat selbst den Verdacht, dass ihr Sohn ebenfalls unter ihrem Engagement zu leiden hatte. Sein Lehrer gab ihm im Abitur eine Eins auf seine Arbeit, der Korrektor eine Vier oder Fünf, so genau weiß sie es nicht mehr. Der Lehrer ihres Sohnes sei sehr verblüfft gewesen. "Wir haben Einspruch eingelegt, aber es hat nichts genutzt. Dabei hätten sie es doch gar nicht nötig gehabt, sie haben ja doch gebaut, was sie wollten."

Und das trotz zweier Bürgerentscheide, die die Reaktorgegner angestrengt hatten. Aber der damalige SPD-Bürgermeister Helmut Karl, seit 1996 Ehrensenator der TU und ein Befürworter des Reaktors von der ersten Minute an, hatte es mit Hilfe seines Stadtrats verstanden, die Entscheidung so lange hinauszuzögern, bis der Reaktor schon stand. Die erste Teilbaugenehmigung hatte der Stadtrat gegen die Stimmen zweier Grüner und zweier CSU-ler bereits im Januar 1995 erteilt - ohne große Diskussion. Im März 1999, nach zwei Gerichtsentscheiden, fand dann doch der Bürgerentscheid statt. Zuvor war noch ein Störfall bekannt geworden, der sich in einem Labor des TU-Physikdepartments ereignet hatte. "Manchmal schickt der Himmel gute Zeichen", erinnert sich Wundrak.

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Armin Simon beschreibt in seinem Buch "Das Atomare Kuckucksei", wie es 1998 zu dem Vorfall mit dem radioaktiven Kobalt-57 kam und wie das Landesamt für Umweltschutz danach selbst in den Wohnungen von Mitarbeitern des Labors strahlende Kleidung und radioaktive Partikel fand. Außerdem wurde bekannt, dass bei einer Routinekontrolle 1998 auch noch verstrahlte Putzlappen gefunden worden waren. Die TU veröffentlichte die Panne im Labor erst sechs Wochen später. "Vorher haben sie es geleugnet, dann als es öffentlich wurde, heruntergespielt", sagt Wundrak. Beim Bürgerentscheid entschieden sich letztlich bei beiden Fragen knapp über 50 Prozent gegen den Reaktor. Es kamen noch einige Gerichtsverfahren hinzu, unter anderem hatte die Stadt München gegen den Reaktor geklagt, doch der FRM II nahm 2005 seinen Betrieb auf, mit hochangereichertem Uran.

Ortswechsel. Winfried Petry ist ein Wissenschaftler aus Leidenschaft. Der wissenschaftliche Direktor der Neutronenquelle und Lehrstuhlinhaber für experimentelle Physik erklärt gerne, warum der FRM II Uran 235 braucht. Für den Garchinger Forschungsreaktor habe es nur die Entscheidung gegeben, "entweder wir sind Spitze, oder die Investition lohnt sich nicht". Doch eine wirkliche Punktquelle sei nur mit hochangereichertem Uran möglich. Der FRM II ist die einzige Neutronenquelle in Deutschland von dieser Größe und Bedeutung, jährlich kämen etwa 1000 Wissenschaftler aus aller Welt, um hier zu forschen.

Anwendungsgebiete sind beispielsweise die Materialforschung, so kann man mit Hilfe des Neutronenstrahls völlig zerstörungsfrei einen Motorblock messen oder Batterien durchleuchten oder der Strahl wird auch in der Behandlung von Krebspatienten eingesetzt, zur Therapie und zur Herstellung von Diagnosemitteln. "Die Stadt weiß, was sie der Neutronenquelle zu verdanken hat", sagt Petry, "Garching ist weltweit berühmt und dieser Ruhm hat mit dem Atomei angefangen".

Zurück im Reihenhaus bei Ingrid Wundrak, die zu Hochzeiten des Kampfes gegen den Reaktor als "Mutter Courage" bezeichnet wurde. Hat sie sich inzwischen mit ihm versöhnt? "Nein", sagt die 70-Jährige. "Ich find's zwar immer noch nicht richtig, aber in meinem Alter ist es nicht mehr so wichtig." Ihre Kinder seien weggezogen, "das beruhigt mich". Ganz umsonst sei ihr Einsatz schließlich nicht gewesen, immerhin heftet sie die Nachbesserung bei den Sicherheitsvorkehrungen auf die Fahnen der Gegner, wie etwa die 1,80 Meter dicken Mauern, die den Reaktor bei einem Flugzeugabsturz schützen sollen.

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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