Film:Blick hinter die Fassade

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Âni Võ ist in Stuttgart aufgewachsen, ihre Muttersprache ist Deutsch, mit ihren Eltern spricht sie Vietnamesisch. Als sie für ihren Film recherchierte, lauschte sie Gesprächen im Dong Xuan Center, einem asiatischen Großmarkt in Berlin. (Foto: Stephan Rumpf)

Warum wechselt das Personal in Nagelstudios so oft? Das fragte sich die junge Regisseurin Âni Võ. Aus ihrer Recherche ist ein Kurzfilm geworden. Über Träume, Ungerechtigkeit und moderne Sklaverei.

Von Clara Löffler

Zartrosa schimmern die Wände des Nagelstudios. Zartrosa wie der Nagellack, den eine Kundin ausgewählt hat. Aus mehreren hundert Farben auf Plastiknägeln. Eine schwierige Entscheidung. Wer den Lack aufträgt, scheint ihr dagegen gleichgültig zu sein. Interaktion findet nur statt, wenn die andere Hand an der Reihe ist.

Ein Nagelstudio wie das in der Eröffnungsszene des Kurzfilms "Stinkfrucht" besuchte auch die Regisseurin Âni Võ, als sie sich nach Abschluss eines Projekts "mal etwas gönnen" wollte. Die 28-jährige Viet-Deutsche bemerkte, dass die Angestellten Vietnamesisch sprachen, und kam ins Plaudern. Deshalb fiel ihr auch auf, dass das Personal in der Folgezeit oft wechselte. Warum? Die Antworten auf ihre Nachfragen blieben vage. Vielleicht, dachte Âni, hatten manche der Frauen einfach einen neuen Job gefunden.

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Ein anderes Szenario bot ein Artikel, den sie später las: 39 Vietnamesinnen und Vietnamesen waren 2019 tot in einem Lastwagen östlich von London gefunden worden. Illegal nach Europa geschleust, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Menschenhändler verlangen dafür bis zu 20 000 Euro. Hier angekommen, zwingen sie ihre Opfer, darunter auch Kinder und Jugendliche, unter widrigsten Bedingungen zu arbeiten, um die Schulden abzubezahlen - an wechselnden Orten, unter anderem in Nagelstudios. Wann die Rechnung beglichen ist, entscheiden die Menschenhändler.

Von "moderner Sklaverei" spricht Markus Pfau, ehemaliger Leiter der Kriminalitätsbekämpfung bei der Bundespolizei in Halle, in der RBB-Dokumentation "Handelsware Kind - Die Mafia der Menschenhändler", für die Adrian Bartocha und Jan Wiese mit dem zweiten Preis des Journalistenpreises "Der lange Atem" ausgezeichnet wurden. Ihnen ist es gelungen, die europaweiten Strukturen des Mafia-Netzwerks offenzulegen. Über die Menschen und ihre Beweggründe, sich in Abhängigkeit dieser Strukturen zu begeben, erfährt man allerdings wenig.

Genau hier setzt der Kurzfilm "Stinkfrucht" an, wie Âni, die an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film Spielfilmregie studiert, im Zoom-Gespräch berichtet. Ihre Stimme klingt ruhig, aber dennoch bestimmt. Sie hat eine klare Haltung zum Thema. Schwarze Haare umrahmen ihr junges, freundliches Gesicht vor einer weißen Hotelwand. Derzeit ist Âni in Paris, wo ihr Werk auf einem Filmfestival gezeigt wurde, wie zuvor schon in den USA und bald auch in Italien.

"Ich bin Deutsche", das knallte sie ihren Eltern früher vor den Latz

Der Film erzählt die Geschichte von Mai, einem 15-jährigen Mädchen, das illegal nach Deutschland geschleust wurde, um Geld für ihre Familie in Vietnam zu verdienen, aber von ihren Schleusern ausgebeutet und weiterverkauft wird. Sie flieht und bittet die zwölfjährige Viet-Deutsche Linh um Hilfe, deren Mutter jedoch selbst Teil des Systems ist. Mai ist kein anonymes Opfer, sondern eine junge Frau mit Hoffnungen und Träumen: Sie ist Fan der südkoreanischen Band BTS und möchte irgendwann einmal an den Tegernsee fahren.

Die Freundschaft zwischen Mai und Linh entwickelt sich, als Linh im Nagelstudio ihrer Mutter zum ersten Mal ihre Periode bekommt. Mai, die dort arbeitet, erinnert das Mädchen an ihre kleine Schwester und erklärt ihr, wie man eine Binde einlegt. Eine Erfahrung, die die beiden verbindet. In anderen Dingen unterscheiden sie sich: Mai versteht Deutsch, spricht aber nur Vietnamesisch. Linh versteht Vietnamesisch, antwortet ihrer Freundin aber immer auf Deutsch. Mit ihrer Mutter unterhält sie sich in einer Mischung aus beiden Sprachen.

Eine Situation, die Âni gut kennt: "In meiner Generation, die hier geboren ist, aber vietnamesische Wurzeln hat, sprechen die meisten ein bisschen Vietnamesisch. Wir haben das von unseren Eltern beigebracht bekommen, aber im Kindergarten und in der Schule sprechen wir Deutsch. Deutsch ist unsere Muttersprache. Vietnamesisch spreche ich nur noch mit meinen Eltern und wenn mir bestimmte Wörter nicht einfallen, spreche ich einen Mix."

In Stuttgart aufgewachsen hatte sie als Kind zunächst wenig Interesse an der Herkunft ihrer Eltern: "Mir war klar, dass ich anders aussehe, aber dennoch habe ich mich als Deutsche bezeichnet und meinen Eltern das auch so vor den Latz geknallt, wenn sie mit irgendwelchen vietnamesischen, kulturellen Eigenheiten kamen." Doch je älter sie werde, desto mehr beschäftige sie sich mit ihren Wurzeln, sagt Âni - auch weil andere sie thematisieren, egal ob im Beruf oder bei der Wohnungssuche. Nach dem Abitur ging sie für ein paar Monate nach Ho-Chi-Minh-Stadt, um dort zu arbeiten und sich mit der vietnamesischen Kultur und Sprache auseinanderzusetzen.

Sie suchte in Asiamärkten und Restaurants nach vietnamesischen Schauspielern

Diese Perspektive nimmt Âni in der deutschen Filmlandschaft als unterrepräsentiert wahr, auch wenn derzeit ein Wandel stattfinde. Das Casting gestaltete sich schwierig, denn es gibt in Deutschland nur wenige Schauspielerinnen und Schauspieler mit vietnamesischen Wurzeln. Nicht nur in sozialen Netzwerken suchte Âni nach ihnen, sondern auch in Asiamärkten und Restaurants. Den Zuschauerinnen und Zuschauern viet-deutsche und vietnamesische Lebensrealitäten näherbringen, das ist ebenso Ziel ihres Kurzfilms, der in Co-Produktion mit dem Bayerischen Rundfunk entstanden ist. Doch bislang ist er von allen Filmfestivals in Deutschland abgelehnt worden.

Ein immer wiederkehrendes Symbol darin: Die Durian, aufgrund ihres intensiven Geruchs auch Stinkfrucht genannt - in Vietnam eine Delikatesse. Linhs Familie verwendet sie zum Füllen der Mondkuchen, die anlässlich des Mondfestes im Herbst gebacken werden. Sowohl Mai als auch Linh erinnert der Geschmack an Zuhause. Ein tröstlicher Geschmack für die eine, die auf der Suche ist nach einem sicheren Ort, an dem sie bleiben kann, als auch für die andere, die jene Sicherheit plötzlich in Frage stellen muss.

"Eine Stinkfrucht ist sehr stachelig, von außen sieht sie gefährlich aus und es tut richtig weh, sie anzufassen. Aber wenn man sich traut, sie zu öffnen und zu essen, kommt man auf einen wirklich cremigen, süßen Geschmack", erklärt Âni. Man hat den Eindruck, dass sie es gewohnt ist, sich in Deutschland erklären zu müssen, wenn es um Vietnam geht, weil ihr Gegenüber sich bislang kaum oder gar nicht mit diesem Land auseinandergesetzt hat.

So wie mit der Durian, so verhalte es sich auch mit den Kulturen, sagt sie: "Nach außen hin hat man ein bestimmtes Bild von ihnen und man traut sich nicht wirklich ran, aber wenn man offen dafür ist, wenn man mutig ist und sich nicht abschrecken lässt, kann man etwas ganz Tolles entdecken, etwas, das einem sehr gut schmeckt."

Sie schlief schlecht, weil sie Angst hatte, alle Vietnamesen in ein negatives Licht zu rücken

Âni wählt ihre Worte mit Bedacht. Auch im Film hat sie nichts dem Zufall überlassen. Kleine Details verleihen den Figuren große Komplexität. Es mag skrupellos wirken, wie der Menschenhändler Bao Mai zu einem Rastplatz fährt, wo junge Vietnamesinnen auf die Ladefläche eines LKWs getrieben werden. Doch kämpft auch er nur als kleine Schraube im System um das Überleben seiner Familie. Das Foto eines kleinen Mädchens hängt an seinem Rückspiegel. Man merkt, wie genau Âni die Strukturen unter die Lupe genommen hat.

Kein leichtes Unterfangen, denn die Dunkelziffer ist hoch, die Berichte sind rar. Betroffene wenden sich selten an die Polizei, weil sie Angst haben vor der Gewalt der Mafia, aber auch, weil sie nicht mit leeren Händen zurück nach Vietnam geschickt werden wollen. Âni und ihre Co-Autorin Katharina Kiesl durchforsteten zahllose Foren und Artikel über Menschenhandel in Deutschland. In Berlin lauschte Âni Gesprächen im Dong Xuan Center, sprach mit Leuten, die Betroffene kennen. Und dennoch sagt sie: "Ich hätte am liebsten eine noch umfangreichere Recherche gemacht." Auch weil sie große Verantwortung verspürt gegenüber ihren Figuren und den Personen, die sie darstellen.

Viele schlaflose Nächte, erzählt Âni, habe sie gehabt, aus Sorge, ihr Film würde die vietnamesische Community in ein negatives, kriminelles Licht rücken. Doch sei das Feedback bislang ausschließlich positiv ausgefallen. Auf Filmfestivals, die vietnamesische Geschichten zelebrieren, sei die Resonanz überwältigend gewesen. "Danke, dass du vietnamesische Jugendliche dazu inspirierst, große Träume zu haben und ihre Wurzeln wertzuschätzen", schrieb eine Lehrerin ihr im Anschluss an eine Filmvorstellung für Schulkinder. "Dass so ein kleiner Film mit Repräsentation so viel ausmachen kann", sagt Âni, sei ihr während des Drehs nicht bewusst gewesen.

Gerade denkt sie viel darüber nach, welche Filme sie in Zukunft drehen möchte. Wie sie Menschen dazu bewegen kann, sich für andere Kulturen zu interessieren. Vielleicht lassen sie sich ja überraschen. Wie beim ersten Biss in eine Stinkfrucht.

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