Konzert:Die Kunst des Schenkens

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Simon Rattle setzt die noble Tradition seines Vorgängers Mariss Jansons fort. Der neue Chefdirigent tritt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zugunsten des SZ-Adventskalenders auf.

Von Paul Schäufele

Schenken ist keine leichte Sache. Man muss weder mit Marcel Mauss noch mit Pierre Bourdieu oder Jacques Derrida per Du sein, um das zu wissen. Nun haben aber diese drei Geistesgrößen nicht die letzten anderthalb Jahre mitgemacht und kennen auch diese spezifisch Münchnerische Situation nicht, bei der allenthalben geschenkt wurde und wird und trotzdem alle zufrieden sind: Die Stadt freut sich über einen neuen Konzertsaal, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks freut sich über einen neuen Chefdirigenten und das Publikum freut sich, dass dieses Orchester mit diesem Dirigenten in diesem Konzertsaal endlich wieder eine der titanischen Mahler-Symphonien aufführen darf. Und alle miteinander freuen sich, weil damit einer der karitativen Höhepunkte des Jahres wieder die ihm gemäße Form gefunden hat. Beim Konzert des BRSO in der Isarphilharmonie am Freitag, 26. November, spielt ein Orchester in Präsenz für ein Publikum. Der gesamte Gewinn des Konzerts kommt dem Spendenhilfswerk der Süddeutschen Zeitung zugute, dem "Adventskalender für gute Werke".

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks führt damit eine Tradition fort, die seit 2009 besteht. Damals setzten sich sein Chefdirigent Mariss Jansons und der musikbegeisterte SZ-Lokalchef Christian Krügel zusammen und entwickelten ein Benefizkonzept, von dem die Jüngsten profitieren sollten. "Musik für alle Kinder" ermöglichte von da an dem Nachwuchs aus finanziell weniger gut gestellten Familien, ein Instrument zu erlernen - genau so, wie die schon vorher erprobte Zusammenarbeit von Stadt München und SZ-Adventskalender unter dem Namen "Sport für alle Kinder" Teilhabe an sportlichen Aktivitäten unterstützt hatte. Das Musikförder-Projekt ermöglicht Kindern die Musikausbildung, etwa indem es Geld für Unterricht zur Verfügung stellt oder den Kauf eines Instruments bezuschusst. Es gehört zu Jansons' Vermächtnis, denn die Konzerte der Reihe waren auch musikalische Glanzpunkte. Im Gedächtnis geblieben sind etwa ein brillantes Silvesterkonzert mit dem Chopin-Preisträger Seong-Jin Cho oder ein Abend, an dem Yefim Bronfman erst Beethovens viertes Klavierkonzert spielte, ehe Jansons seinen punktgenauen Humor an Rodion Schtschedrins Carmen-Suite beweisen konnte. Das gefiel auch dem anwesenden Komponisten.

Die Konzerte haben viel von der Leidenschaft des Menschen Janson vermittelt, die sich nicht auf seine Arbeit mit dem Taktstock beschränkte. Der Bau eines neuen Konzertsaales war ihm ebenso wichtig wie die Förderung junger Musizierender, wobei gerade diese beiden Herzensprojekte für ihn verbunden waren. Das neue Konzerthaus im Werksviertel sollte auch Raum für die Musikausbildung bieten, die immer im Fokus von Jansons sozialem Engagement stand: Bei den von ihm dirigierten Adventskalender-Konzerten kamen regelmäßig Summen zwischen 50 000 und 70 000 Euro für die Aktion "Musik für alle Kinder" zusammen, ohne Abzüge. Denn da der Süddeutsche Verlag sämtliche Kosten der Aktion trägt, gingen damals hundert Prozent der durch die Tickets erhaltenen Spenden an das Hilfsprojekt.

Schon die letzten beiden Konzerte allerdings mussten ohne Mariss Jansons auskommen. Die Konzerte im Januar 2020, bei denen Igor Levit den Solo-Part übernahm, waren noch mit Jansons' Dirigat angekündigt worden. Am Ende stand Iván Fischer am Pult des wenige Monate zuvor verstorbenen Kollegen. Das nächste Konzert der Reihe im Dezember des Jahres stellte dann eine mehrfache Herausforderung dar - kein Chefdirigent, kein Publikum, keine Tickets. Doch weil mit guten Bräuchen nicht gebrochen werden darf, wurden diese Hürden mit Leichtigkeit übersprungen und Herbert Blomstedt dirigierte das Symphonieorchester für Hörerinnen und Hörer eines Video-Livestreams. Für diesen wurden keine Tickets verkauft, aber Spenden auf freiwilliger Basis erbeten.

Wenn nun also Simon Rattle, der sich ab der Spielzeit 2023/24 Chefdirigent des BRSO nennen darf, vor dem Orchester steht, hat er keine kleine Aufgabe zu bewältigen. Es geht darum, eine noble Tradition fortzuführen, eine Tradition, die sein Vorgänger begründet hat und die unter diesem viele Menschen begeisterte und animierte, mit ihrem Konzertgang Gutes zu bewirken. Zugleich gilt es, eigene Akzente zu setzen. Da hilft schon der neue Konzertsaal. Während ansonsten die SZ-Adventskalender-Konzerte im Herkulessaal der Residenz stattfanden, kann Rattle nun die neue Isarphilharmonie mit musikalischem Leben füllen. Zu diesem Zweck hat er sich ein Werk ausgesucht, das zwar noch nie besonders häufig aufgeführt wurde, aber seit Beginn der Maßnahmen physischer Distanzierung auf den Konzertbühnen jegliche Selbstverständlichkeit eingebüßt hat.

Gustav Mahlers neunte Symphonie ist sein letztes vollendetes Werk und, in Theodor W. Adornos Worten, "das erste der neuen Musik". Auf jeden Fall ein monumentales Opus, das es schafft, einen Auflösungsprozess zu 75 Minuten aufregender Musik zu formen. Wie man leicht sieht, entsteht hier eine klassische Win-Win-Win-Situation. Rattle, der sich als Mahler-Dirigent längst profiliert hat, dirigiert dessen erbarmungsloseste, und darum vielleicht großartigste, Symphonie; die Einnahmen gehen an Kinder, die dadurch Musik machen lernen; vielleicht kommen die dann irgendwann ins Orchester, spielen Mahler und alles geht von vorne los. Schenken ist ein komplexer Prozess, doch selten läuft er so allseits beglückend ab wie hier. Helfen kann man also, indem man ein Ticket kauft, was ab Dienstag, 26. Oktober, möglich ist. Und wer sich lieber nicht in die klirrende Kälte Sendlings begeben möchte - auch wenn der neue Konzertsaal einen Besuch lohnt! - der mag noch einmal den Komfort moderner Technik genießen. Wie im Vorjahr wird auch dieses Konzert in Echtzeit gestreamt.

© SZ vom 26.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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