Ausstellung:Melancholie, Sehnsucht und Groteske

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Niedergeschlagener Hofnarr: Jan Matejkos Gemälde "Stanczyk" aus dem Jahr 1862 gehört zur Sammlung des Nationalmuseums in Warschau. (Foto: Piotr Ligier)

Die Schau "Stille Rebellen" in der Hypo-Kunsthalle bietet überraschende Einblicke in die Ästhetik und das Seelenleben polnischer Künstler um 1900.

Von Harald Eggebrecht, München

Der Bilderreigen beginnt mit der für Polen ikonischen Darstellung des niedergeschlagenen Hofnarren Stánczyk, einer historisch belegten Figur aus dem 16. Jahrhundert, der gleich drei polnischen Königen unverblümt die Wahrheit sagte. Der Historienmaler Jan Matejko, eine der Portalgestalten der neueren polnischen Kunst, zeigt den weisen Narren im dunklen Nebengelass eines Festsaals. Die Tür dorthin ist offen, man ahnt Gläserklirren und Lachen, während Stánczyk im roten Narrenkostüm auf einen Stuhl gesunken ist und trübe zu Boden schaut. Er trauert wegen der Nachricht, Smolensk sei verloren worden. Matejko, damals Mitte zwanzig, begründete mit diesem Bild von 1862 seinen Ruhm als bedeutendster polnischer Historienmaler. Dreißig Jahre später schuf Matejko ein Selbstbildnis, er sitzt so gelassen wie Achtung gebietend auf abgeschabtem, einst prächtigem roten Sessel, langes wildes Haar und ein ebensolcher Bart umrahmen das ernste Gesicht des Malerfürsten, geprägt vom skeptisch-starren Blick, der keine Zuversicht kennt. Auf seine Weise erscheint er selbst als eine Art "Stánczyk".

Das Landleben als Bildmotiv: Jacek Malczewskis Ölgemälde "Kunst auf dem Gutshof" von 1896 stammt aus einer Privatsammlung und ist eine Dauerleihgabe im Nationalmuseum in Warschau. (Foto: Piotr Ligier)

Nachfolgende Künstler wollten sich nicht mehr Gemälden der ruhmreichen Vergangenheit Polens als patriotische Tat widmen, sie malten beispielsweise energiegeladene Bilder polnischer Landschaften im Winter: Bei Stanislaw Witkiewicz wirkt die eingeschneite Hohe Tatra in düsterem Licht wie auf ewig eingefroren; bei Julian Falat dehnt sich eine weite flache Schneelandschaft geradezu sehnsuchtsvoll unter blass-blauem wolkendurchsetztem Himmel, von Flüsschen durchzogen. Doch was unter Schnee und Eis erstarrt ist, kann der Frühling als neuer Anfang lösen. Bei Wojciech Weiss, einem der eindrücklichsten Künstler dieser Präsentation, gähnen und recken sich Knaben in einer mit Mohnblumen durchsetzten Wiese. Die Mohnblüten glühen wie Funken im satten Grün unter tiefstem Blau, dazwischen die Knaben, als seien auch sie gerade aus der Erde emporgewachsen. Bei Jacek Malczewski, einem der ganz Großen des "Jungen Polen", ist der Maler vor seiner Staffelei in bukolisch heller Landschaft eingeschlafen, und schon bevölkert sich die blühende saftige Flur mit Schemen seiner Träume. Oder der "Frühling" rauscht bei ihm auf als Nymphe aus dem Teich, so als ob eine Nixe sich in eine Muse der neuen Zeit verwandelt.

Leon Wyczólkowski, der auch Bildhauer war, beschwört in seinem "Versteinerten Druiden" nicht nur eine heroisch antropomorphe Felsenlandschaft, sondern entdeckt in der Versteinerung die verborgene Kraft uralter Mächte. Dass einem Michelangelos Moses in den Sinn kommt, ist beabsichtigt: Moses als Sinnbild des Befreiers des Volkes Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft.

Olga Boznanska kommt ihren Modellen sehr nah, ohne assoziatives Beiwerk und historisch-mythische Verwebungen. Wie hier mit "Mädchen mit Chrysanthemen" aus dem Jahr 1894. (Foto: Karol Kowalik/The Photographic Studio of the National Museum in Kraków)

Einige der schönsten und fesselndsten Bilder dieser großartigen Schau sind Porträts der besonderen Art. Malczewski porträtiert sich selbst als Spielmann mit Brustharnisch umgeben von mythischen Gestalten. Oder er rückt den Lyriker Adam Asnyk in die untere Hälfte des Gemäldes und lässt über dem Haupt des Dichters Satyrgestalten erscheinen aus einem Lied Asnyks. Wojciech Weiss zeigt sich mit wehmütig-ironischem Lächeln, in seinen Armen verschiedene Masken haltend. Das erinnert auch an den großen Belgier James Ensor. Am nächsten kommt allerdings Olga Boznańska ihren Modellen, ohne assoziatives Beiwerk und historisch-mythische Verwebungen. Die ganze Unsicherheit, Skepsis und Verlegenheit eines "Jungen in Gymnasiastenuniform" fängt sie ein mit unbeirrbarer Sensibilität des genauen Blicks: Wie der Junge vorsichtig "napoleonisch" die Hand in die Uniform schiebt, wie er sich vermeintlich lässig im Kontrapost hinstellt, und doch fürchtet, ausgelacht zu werden, fasziniert.

"Wir und der Krieg" von Edward Okún ist in den Jahren 1917 bis 1923 entstanden und ist aus dem Nationalmuseum in Warschau nach München gereist. (Foto: Krzysztof Wilczyński/Nationalmuseum Warschau)

Wer Bildwelten erwartet, die vielleicht im Großen und Ganzen vertraut erscheinen, wird hier aufs Positivste enttäuscht. In der Hypo-Kunsthalle haben die Kuratorin Nerina Santorius und ihr Kollege Albert Godetzky einen Parcours gestaltet mit 130 Kunstwerken aus den wichtigen Museen in Warschau, Krakau, Posen und Privatsammlungen. Er führt an verblüffender Vielgestaltigkeit, thematischem Abwechslungsreichtum und eindrucksvollen Bildkonzepten vorbei. Dass die Schau erschreckende Aktualität durch Putins Krieg gegen die Ukraine erfährt, füllt die Bilder aus der Zeit zwischen 1890 und 1918 wieder etwas mit jener appellatorischen Kraft, als sich "das junge Polen", eine ganze Künstler- und Intellektuellengeneration, daran machte, die Wiedergeburt Polens zu beschwören, das als unabhängiger Staat um 1900 schon mehr als hundert Jahre verschwunden war, aufgeteilt zwischen dem preußisch bestimmten Deutschen Reich, dem zaristischen Russland und Österreich-Ungarn. Erst 1918 kehrte Polen als Staatsgebilde in die Wirklichkeit zurück.

Witold Wojtkiewicz' Bilder allein lohnen den Besuch. Mit diesem Bild aus dem Jahr 1905 bricht er unverhohlen das Pathos des pflügenden Bauern. (Foto: Krzysztof Wilczyński/Nationalmuseum Warschau)

Die Schau ist die bisher größte ihrer Art in Deutschland, sie öffnet vielfältig die Augen für die polnische Kunst jener Epoche, als Symbolismus und Jugendstil ganz Europa in Literatur, Malerei und Musik inspirierten. Die polnischen Künstler verbanden diese Strömungen mit ureigenen Ideen, der Sehnsucht nach Unabhängigkeit, eigener Identität und einer genuin polnischen Kunst: Melancholie und Mythenbeschwörung, Suche nach ursprünglicher Kraft in Religion und bäuerlichen Traditionen. Einer jedoch, Witold Wojtkiewicz, der schon mit 29 Jahren starb, wendet sich von solchen Träumen, Wunschfantasien und Urmythen ab und sieht die Welt als surreale Groteske. Seine verstörenden Bilder allein lohnen jeden Besuch. Bei ihm haben Puppen mehr Ausdrucksstärke als Menschen, er bricht das Pathos des pflügenden Bauern auf eigener Scholle unverhohlen sarkastisch: Ein Clown führt den Pflug, den ein lächerlich dürrer Spielzeuggaul unter giftig gelbem Himmel zieht.

Stille Rebellen - polnischer Symbolismus um 1900, vom 25. März bis 7. August, Näheres unter www.kunsthalle-muc.de

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