Kino:Träume weiterleben

Kino: Irina, Margaryta und Artemiy (von rechts) zu Gast beim Münchner Filmfest.

Irina, Margaryta und Artemiy (von rechts) zu Gast beim Münchner Filmfest.

(Foto: Catherina Hess)

Die Münchner Hochschule für Fernsehen und Film hat Studierende aus der Ukraine aufgenommen, die ihre Heimat verlassen mussten.

Von Anna Steinbauer, München

Als Irina Boyarchuk am 8. März nach ihrer beschwerlichen, dreitägigen Flucht aus Kiew in einem kleinen bayerischen Dorf landet, fasst sie einen Entschluss: Sie will nicht mehr weinen und leiden. Sie möchte ihren Blick in die Zukunft richten und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die 33-Jährige, die Schauspiel studierte und zuletzt als Regieassistentin beim Fernsehen gearbeitet hat, will ihr Studium fortführen und ihren Lebenstraum verwirklichen: Filme zu machen. Auch wenn das bedeutet, in einem fremden Land komplett neu anzufangen, ohne Geld und ohne ihre geliebte Großmutter, die sie in der Ukraine zurücklassen musste. Wenn Boyarchuk über die 81-Jährige spricht, bei der sie aufgewachsen ist, kommen ihr die Tränen. Die Erinnerung an die ersten Wochen des russischen Angriffskriegs, die sie komplett im Bunker verbrachte, ist noch frisch. Und an die Großmutter, die sie immer wieder ermutigte, sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft zu begeben.

Zufällig stieß Irina Boyarchuk kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland auf den Aufruf, den die Münchner Hochschule für Fernsehen und Film zu Beginn des Ukrainekrieges auf ihrer Webseite gestartet hatte, um geflüchteten Filmstudierenden zu helfen. Sie schrieb eine Mail, nach einem Tag kam eine Antwort, und Irina fuhr direkt nach München. "Bis ich in Deutschland gelandet bin, war alles sehr mühsam, aber als ich die HFF gefunden habe, ging alles sehr einfach", erzählt sie. Seit März lebt und studiert sie zusammen mit fünf weiteren geflüchteten ukrainischen Filmstudierenden an der HFF, wo Projektbüros kurzerhand zu Doppelzimmern umfunktioniert wurden. "Von dem Ort, an dem ich jetzt bin, habe ich immer geträumt", sagt Irina, die sich vor allem für dokumentarisches Arbeiten und Drehbuchschreiben interessiert.

So geht es auch dem 18-jährigen Artemiy Nechyporenko und der 22-jährigen Margaryta Chalovska. Nechyporenko bereitete sich gerade auf die Aufnahmeprüfung an der HFF vor, als der Krieg ausbrach. Weil der Ukrainer unbedingt hier studieren wollte, lernt er bereits seit zwei Jahren Deutsch. Der Aufruf der Filmhochschule kam ihm gelegen, obwohl er zunächst nicht sicher war, ob er nicht lieber sein Land als Soldat unterstützen sollte. Die aus Charkiw stammende Margaryta Chalovska, die erst im September ihr Regiestudium in Kiew begann, ist sich ebenso sicher: "Ich möchte studieren und Filme machen und nicht in der Ukraine sterben oder auf das Ende des Krieges warten." Nach Deutschland wollte sie zunächst nicht unbedingt, nicht zuletzt wegen ihrer jüdischen Wurzeln hätte sie Angst und Vorurteile gehabt, erzählt sie. Dem Hilfsangebot der Münchner Hochschule folgte auch Chalovska, nachdem sie in einer schrecklichen Odyssee über die Westukraine in Polen strandete. "Jeder von uns weiß, was er will. Vielleicht ist das der Grund, wieso wir hier gelandet sind", sagt Irina Boyarchuk.

Im Rahmen eines extra für sie konzipierten Programmes auf Englisch dürfen die insgesamt sechs ukrainischen Gaststudierenden zunächst bis September in der HFF wohnen und studieren. Dazu gehört auch die Teilnahme am "Festival TV", einer jährlich stattfindenden Kooperation der Hochschule mit den Filmfest München, bei der alle Studierenden kurze Magazinbeiträge rund um das Festival drehen. In diesem Kontext trafen Irina Boyarchuk, Margaryta Chalovska und Artemiy Nechyporenko auf den ukrainischen Regisseur Maksym Nakonechnyi, der mit seinem Kriegsdrama "Butterfly Vision" um eine traumatisierte ukrainische Soldatin, die aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt, bereits in Cannes für Aufruhr sorgte. Eine besondere Begegnung, deren Resultat man online auf Youtube sehen kann: Vor der Kamera ein Nachwuchsregisseur, der seinen Film noch vor Kriegsausbruch fertigstellte und zu diesem Zeitpunkt annahm, er würde eine Geschichte über die Vergangenheit erzählen. Hinter der Kamera mehrere geflüchtete Studierende, die es noch schwer fassen können, dass das grausame Szenario, das "Butterfly Vision" mitsamt Bildern vom ausgebombten Kiew beschwört, jetzt zur Realität ihres ganzen Landes geworden ist.

In Nakonechnyis Film geht es um Vergewaltigung und Krieg und darum, wie sich diese Erfahrungen in Geist und Körper der Gesellschaft einschreiben. "Es ist eine Geschichte, die so jetzt jederzeit passieren könnte", erzählt der Regisseur, der extra aus Kiew anreiste, um seinen Film in München zu zeigen. Für ihn sei es wichtig, der Welt zu zeigen, welchen Preis die Ukraine für ihre EU-Kandidatur zahlt, und darüber zu sprechen, was in seiner Heimat seit Jahren passiert. "Für uns dauert der Krieg jetzt seit neun Jahren", sagt Artemiy dazu. "In der Realität gibt es viele solcher Geschichten, wie sie der Film erzählt." Wie es für die geflüchteten Filmstudierenden an der HFF weitergeht, weiß derzeit niemand so genau. Bis September können sie auf jeden Fall bleiben, danach geht es für sie wahrscheinlich als Gaststudierende weiter. Doch Boyarchuk, Chalovska und Nechyporenko sind sich einig: Zukunftspläne kann man in Kriegszeiten schwer machen. Träume zu verfolgen hingegen, ist lebensnotwendig.

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