Soll der Kohleblock im Kraftwerk Nord bis 2022 abgeschaltet werden? Darüber entscheiden die Münchner am 5. November. Rund 60 Bürgerinitiativen fordern die Abschaltung, die Mehrheit im Rathaus jedoch ist dagegen. Die Frage ist komplex, diverse Thesen sind auf Plakaten, Flugblättern sowie auf der Wahlbenachrichtigung im Umlauf. Die SZ analysiert die plakativsten Behauptungen.
Ohne Ja beim Bürgerentscheid läuft das Kraftwerk bis 2035.
Behaupten die Bürgerinitiativen. Dies entspricht jedoch weder den Absichten der Stadtwerke noch denen des Stadtrats. Das Jahr 2035 bezeichnet die sogenannte technisch-wirtschaftliche Lebensdauer der Anlage, also die Frist, in der es sich lohnt, das Kraftwerk einsatzbereit zu halten. Derzeit geht das Rathaus davon aus, den Kohleblock in den Jahren 2027 bis 2029 abzuschalten - wenn der Ausbau der Geothermie ausreichend fortgeschritten ist und sich die finanziellen Verluste für die Stadtwerke in Grenzen halten. Der Bürgerentscheid würde den Ausstieg also nur um fünf bis sieben Jahre vorziehen.
Das Kohlekraftwerk ist wichtig für die Versorgungssicherheit bei einem deutschlandweiten Blackout.
Behauptet die Stadtratsmehrheit. Tatsächlich besteht in München aktuell die sogenannte Inselfähigkeit: Die Stadt kann sich über eigene Anlagen mit Energie versorgen - auch wenn rundherum alles in Dunkelheit versinkt. Ohne das Kraftwerk Nord wäre dies nicht mehr möglich. Allerdings ist diese Autarkie nicht mehr zeitgemäß und wird ohnehin spätestens in den Jahren 2027 bis 2029 aufgegeben, wie Stadtwerke-Chef Florian Bieberbach bestätigt. Dann nämlich, wenn der Block 2 im Kraftwerk Nord ohnehin abgeschaltet wird. Erneuerbare Energien, die einen immer höheren Anteil an der Versorgung übernehmen sollen, sind im Stadtgebiet nicht in ausreichender Menge verfügbar - vor allem Wasser- und Windenergie müssen außerhalb der Stadtgrenze erzeugt werden.
Allerdings, so ein gemeinsames Gutachten von Stadtwerken und Öko-Institut, ist der Kohleblock zumindest in den kommenden Jahren noch für die Versorgungssicherheit bei der Fernwärme wichtig. Laut den Experten müssten nach einer Abschaltung zumindest an sehr kalten Tagen zusätzliche Gasheizwerke ans Netz gehen. Diese Anlagen müsste man erst bauen. Sie wären dann nach einigen Jahren überflüssig, sobald ausreichend Geothermie zur Verfügung steht. Die Verfechter des beschleunigten Ausstiegs gehen trotzdem davon aus, dass es auch ohne temporäre Heizwerke geht. Christof Timpe, einer der Experten des Instituts, hält jedoch eine Stilllegung des Blocks im Jahr 2022 für "sehr, sehr sportlich" und eigentlich verfrüht. Es sei vollkommen unrealistisch, bis dahin ausreichend Geothermie sowie die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu haben.
Das Kohlekraftwerk verschmutzt die Luft mehr als der gesamte Münchner Straßenverkehr.
Behaupten die Bürgerinitiativen. Diese Aussage ist im Großen und Ganzen richtig, die CO₂-Emissionen des Straßenverkehrs liegen in etwa in der gleichen Größenordnung wie die des Kraftwerks (rund 1,7 Millionen Tonnen in jedem Jahr). Straßenbeleuchtung, Ampeln und weitere verkehrsbedingte Stromfresser einmal ausgenommen. Allerdings stellt sich die Frage, was ein solcher Vergleich überhaupt aussagt. Er impliziert ja, mit einer Stilllegung des Kraftwerks könne man so viel CO₂ einsparen, wie der gesamte Straßenverkehr erzeugt. Das aber ist nicht korrekt. Denn natürlich müssten Strom und Wärme stattdessen in anderen Anlagen erzeugt werden (darunter auch die kleinen gasbetriebenen Heizwerke). Die Einsparung wäre also viel geringer.
Eine Abschaltung des Kohleblocks bringt fast keine CO₂-Einsparung.
Behauptet die Stadtratsmehrheit. Zu diesem Thema gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen - die vor allem davon abhängen, ob man den Handel mit Emissionszertifikaten miteinbezieht oder nicht. Laut Timpe vom Öko-Institut wird durch die Stilllegung des Kohleblocks zunächst real Kohlendioxid eingespart. Denn die Stadtwerke würden anschließend zumindest einen Teil der ausfallenden Energie im Kraftwerk Süd erzeugen. Das aber wird mit Gas betrieben und hat daher geringere CO₂-Emissionen als der Kohleblock. Bieberbach bestätigt diese Darstellung. Die Einsparung liege bei etwa 0,6 bis 0,8 Millionen Tonnen pro Jahr. Allerdings geht der Stadtwerke-Chef davon aus, dass die über Zertifikate erworbenen Verschmutzungsrechte dann eben von einem anderen Unternehmen genutzt werden. Was global gesehen keinen Unterschied machen würde. Erst wenn die EU beginne, Zertifikate vom Markt zu nehmen, seien klimarelevante CO₂-Einsparungen zu erreichen - und danach sehe es derzeit nicht aus.
Timpe beobachtet hingegen Bewegung in der Brüsseler Szene. Das Öko-Institut empfiehlt daher, den Emissionshandel nicht miteinzurechnen, sehr wohl aber die an anderer Stelle ersatzweise erzeugte Energie. Die Rechnung sieht dann so aus: Wird das Kraftwerk bereits 2020 stillgelegt (für 2022 gibt es keine Berechnung), bleiben der Umwelt bis zum Ende der technischen Lebensdauer 2035 insgesamt zwischen 8,2 und 10,6 Millionen Tonnen Kohlendioxid erspart. Bei einer Stilllegung 2023 sind es 6,4 bis 8,8 Millionen Tonnen. Das ist im bundesweiten Vergleich nicht nichts, aber auch keine markante Größenordnung. Denn mit einem CO₂-Jahresausstoß von rund 1,7 bis 1,9 Millionen Tonnen ist das Kraftwerk Nord eine eher kleine Nummer. Andere deutsche Kohlekraftwerke emittieren beinahe das Zehnfache.