Missbrauch im Pflegeheim:"Wir stehen alle unter Schock"

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Zwei, auf denen viel Verantwortung lastet: Heimleiter Ulrich Spies und Hildegard Thaler, Pflegedienstleiterin und stellvertretende Heimleiterin. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Nach dem sexuellen Missbrauch demenzkranker Bewohnerinnen durch einen Pfleger, bemüht sich die Leitung des evangelischen Alten- und Pflegeheims Planegg um Schadensbegrenzung und bessere Prozesse.

Interview von Annette Jäger, Planegg

Im evangelischen Alten- und Pflegeheim Planegg wurden demenzkranke Bewohnerinnen von einem Pfleger sexuell missbraucht. Der Mitarbeiter musste umgehend das Haus verlassen, die Polizei ist eingeschaltet. Ulrich Spies, Heimleiter, und Hildegard Thaler, Pflegedienstleiterin und stellvertretende Heimleiterin, berichten im Gespräch, wie sie mit den Vorfällen umgehen. Beide stellen sich den Fragen offen, es ist zu spüren: Sie wollen alles richtig machen. Bei einem späteren Rundgang durch das Haus grüßen sich Heimleitung, Bewohner und Mitarbeiter auf den Gängen herzlich und persönlich.

SZ: Herr Spies, was genau ist denn vorgefallen?

Ulrich Spies: Eine Pflegekraft wurde Ende Januar Augenzeugin, wie ein Kollege eine Heimbewohnerin missbraucht hat. Sie hat dies ein paar Tage später Frau Thaler gemeldet, die wiederum mich sofort informiert hat. Wir haben auf der Stelle den betroffenen Mitarbeiter zu einem Gespräch gebeten. Er hat nichts zugegeben, aber auch nichts bestritten. Für uns war klar: Das beobachten wir nicht, wir handeln. Er wurde umgehend vom Dienst suspendiert, das lief alles im Minutentakt ab. Inzwischen arbeitet er nicht mehr bei uns und hat sich dann selbst bei der Polizei angezeigt. Später kam heraus, dass er insgesamt vier Bewohnerinnen missbraucht hat, drei sind demenzkrank.

Nach solch einem Vorfall können Sie wohl kaum zur Tagesordnung übergehen. Wie gehen Sie damit um?

Spies: Wir stehen alle unter Schock. So etwas ist mir in den zehn Jahren hier als Heimleiter noch nie passiert, wir hatten keinerlei Hinweise darauf. Wir haben die Angehörigen der Betroffenen informiert, mit den Betroffenen selbst ist es aufgrund ihrer Erkrankung nicht möglich, über die Geschehnisse zu sprechen. Wir haben natürlich auch mit den Mitarbeitern der betroffenen Station gesprochen.

Hildegard Thaler: Wir hatten zur selben Zeit unsere Mitarbeiterjahresversammlung, bei der wir alle informiert haben. Die Bewohner selbst wurden im Speisesaal nach dem Essen und beim Kaffeetrinken im Foyer mehrfach informiert. Vor allem die Angehörigen all derer, die auf der betroffenen Station leben, haben großen Aufklärungsbedarf, deshalb fand für sie bereits ein spezieller Abend statt. Eingeladen war auch ein Vertreter der Fachstelle für Qualität und Aufsicht, früher Heimaufsicht genannt.

Wie ist die Stimmung im Haus?

Thaler: Es herrscht große Betroffenheit und Bestürzung darüber, dass so etwas passieren kann. Der Pfleger war ein sehr beliebter Kollege und arbeitete seit sieben Jahren bei uns. Ich spüre auch große Unsicherheit unter den Mitarbeitern, sie haben Berührungsängste den betroffenen Bewohnerinnen gegenüber. Die Mitarbeitergespräche auf der Station werden zur Zeit von der Pfarrerin der Inneren Mission, Dorothea Bergmann, die auch Ethikbeiratsvorsitzende ist, begleitet.

Können Sie mit gutem Gewissen sagen, zuvor alles getan zu haben, um solchen Übergriffen vorzubeugen?

Spies: Ich sage ja. Wir haben im Haus eine Stimmung der Vertrautheit und der Offenheit, wie mir immer wieder gespiegelt wird. Der Grundtenor ist: Hier darf gesagt werden, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Jeder soll bitte Fehler zugeben; wir versuchen, es dann besser zu machen.

Thaler: Die Pflege ist ein körperlich und psychisch sehr belastender Beruf, wir haben deshalb ein großes Fortbildungsangeboten für die Mitarbeiter. Kurz vor den Vorfällen hatte sogar der betroffene Kollege an der Fortbildung teilgenommen - "Wenn das Gewissen zwickt" -, ein Supervisionstag für Mitarbeiter in den Pflegeeinrichtungen. Es ging darum, von seinen Befindlichkeiten zu erzählen, von den Grenzen, an die man in diesem Job kommt. Da war ein ganzer Tag für die eigene Psychohygiene reserviert.

Spies: Es gibt auch das Angebot des persönlichen Coachings durch Fachkräfte der Pflegeakademie, das etwa dann angezeigt ist, wenn ein Pfleger eine besondere Belastung erlebt. Wir haben auch die Gesundheitstage, an denen die Mitarbeiter ihrer eigenen körperlichen und seelischen Gesundheit nachgehen können. Aber wenn da jemand beschließt, resistent zu sein, dann können wir nichts machen.

Trotzdem: Wo können, wo müssen Sie noch nachjustieren?

Spies: Wir werden demnächst eine Fachtagung für alle Mitarbeiter abhalten, wir wollen das Thema Sensibilisierung noch genauer in den Fokus rücken. Die Mitarbeiter sollen konkrete Hilfen erhalten, wie sie Missbrauch erkennen, auf was sie achten können, wie sie Hilfe holen, wenn sie etwas beobachten. Es geht in der Schulung darum, Grenzen zu ziehen - wann ist Berührung herzlich und liebevoll, wann beginnt der Missbrauch, der Übergriff. Das ist nicht einfach. Bewohner und Pflegekräfte kennen sich zum Teil seit Jahren, da entstehen Vertrautheiten, die von Bewohnern auch gesucht werden. Diese Schulung wird übergreifend für alle acht Heime der Inneren Mission stattfinden.

Thaler: Das Wichtigste ist tatsächlich, untereinander sensibler zu sein. Wir haben viele Praktikanten, denen wir immer wieder sagen: Wenn ihr etwas beobachtet, was euch komisch vorkommt, sagt es! Man selbst wird einfach ein Stück weit betriebsblind. Nach dem Vorfall haben die Kollegen jetzt auch gesagt: Ja, stimmt, das war etwas eigenartig, was ich beobachtet habe - aber sie haben es nicht zuordnen können. Das Wichtigste in der Pflege ist es, eine hohe Sensibilität für den Menschen zu entwickeln und zu reflektieren. Das muss in der Ausbildung Thema sein.

Ein solcher Vorfall dient nicht dem guten Ruf. Sind Sie darauf vorbereitet, dass jetzt andere Unzufriedenheiten laut geäußert werden?

Spies: Wir haben die Kritik der letzten Jahre an den Altenheimen verstanden und versuchen mit den begrenzten Mitteln, die wir haben, ein modernes Heim zu führen. Ich denke, wir sind auf der richtigen Seite. Das heißt nicht, dass wir alles richtig machen. Es wird immer Wünsche von Angehörigen geben, die wir nicht ohne Weiteres erfüllen können.

© SZ vom 05.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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