Rechtsextremismus:Antisemitische Briefkampagne

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Ein Atemalkoholtest des Mannes ergab einen Wert von über einem Promille. (Foto: Günther Reger)

Die Kriminalpolizei ermittelt wegen einer Serie von Hetzschriften, in denen der Holocaust geleugnet wird. In den Landkreisen Dachau und Fürstenfeldbruck gingen über Monate hinweg anonyme Hassschreiben an die Burschenvereine, mit der Aufforderung, sie zu verbreiten

Von Helmut Zeller, Dachau/Fürstenfeldbruck

Schon nach den ersten drei Worten ist Andreas Widmann klar, was er da in seinen Händen hält: Er hat einen Brief von rechtsextremen Antisemiten erhalten. Es ist Juni. Der Vorsitzende des Katholischen Burschenvereins Sittenbach in der Gemeinde Odelzhausen wirft Briefumschlag und Inhalt weg. Ein paar Wochen später stellt ihm der Postbote wieder einen Brief gleichen Inhalts zu, in dem der oder die Absender den Holocaust leugnen. Den Brief hebt Widmann auf. Der Aufforderung, die Hetze in seinem Verein und darüber hinaus zu verbreiten, kommt er nicht nach. Sonst noch was! Mit ihrer menschenverachtenden Propaganda sind die oder der Urheber an den Falschen geraten.

Widmann kann nicht ahnen, dass es sich um eine ganze Serie von Briefen an mehrere Burschenvereine in den Landkreisen Dachau und Fürstenfeldbruck handelt. Die identischen Briefe kommen alle über das Briefzentrum 82 in Starnberg - und gehen auch nach München und ganz Oberbayern sowie bundesweit an Adressaten, etwa in Berlin oder Frankfurt. Insgesamt sind es 25 Fälle in beiden Landkreisen. Der Fürstenfeldbrucker Kripochef Manfred Frei vermutet jedoch, dass es weit mehr sein dürften, weil eben viele Empfänger die Post sofort wegwerfen und keine Anzeige erstatten würden.

Es begann schon im Oktober und November 2020: Gleich fünf Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Dachau erhielten die ekelhafte Post. Dann ebbte es ab. Jetzt ist Sommer - und der Bundestagswahlkampf nimmt richtig Fahrt auf. Diesmal geraten vor allem Burschenvereine ins Visier der anonymen Hetzer. "Der Landkreis Dachau ist stark betroffen", sagt der Kripochef Frei der SZ. Vor allem sind es Vereine in den Gemeinden Odelzhausen, Sulzemoos und Bergkirchen. Aber auch im Landkreis Fürstenfeldbruck schlagen die antisemitischen und rassistischen Schmähschriften auf, zum Beispiel in Eichenau und in der Stadt Puchheim. Norbert Riepl meint, dass die rechtsextreme Kampagne bewusst im Wahlkampf auf Hochtouren lief. Riepl ist Bürgermeister der Gemeinde Oberschweinbach im Landkreis Fürstenfeldbruck. Ein Gemeinderat hatte ihm im Juni den Hetzbrief vorgelegt, der an den Burschenverein in Oberschweinbach gegangen war.

Riepl brachte die Angelegenheit in der Bürgermeisterdienstbesprechung der Verwaltungsgemeinschaft (VG) Mammendorf zur Sprache. Die Burschenvereine in den anderen sieben Gemeinden haben, wie er mitteilt, keine Post dieser Art erhalten. Aber es reiche schon der eine Brief, sagt Riepl. In seinen sieben Jahren als Bürgermeister sei ihm eine solche widerliche Aktion nicht untergekommen. Der Bürgermeister ist, wie er sagt, froh, dass die Hetzkampagne nicht öffentlich wurde und somit den Drahtziehern keine Plattform im Wahlkampf geboten worden ist.

Als Adressaten für die Weitergabe werden in den Briefen genannt: "Mitarbeiter der Lügenpresse, Pfarrer und Pastoren, Parteipolitiker (Grüne, SPD, Linke, CDU), linke Richter und Staatsanwälte, Sozialarbeiter - kurzum alle charakterlichen Minus-Varianten, denen die Zerstörung Deutschlands und Europas eine Herzensangelegenheit ist." Und in fetten Lettern steht geschrieben: "Festung Europa - oder afro-orientalischer Slum-Kontinent. Wenn die weißen Völker sterben - verlöscht das Licht der Erde!" Die Diktion lässt Rückschlüsse zu auf das verschwörungsideologische Milieu, das auch in den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung sichtbar wird. Aber auch auf die rassistische "White Supremacy"-Bewegung in den USA, die auf der nationalsozialistischen Rassenideologie fußend die Vorherrschaft der "weißen Rasse" fordert.

Die Briefe erfüllen den Straftatbestand der Holocaustleugnung. Der Aufruf der Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 wird als eine "Antwort" auf eine angebliche "jüdische Kriegserklärung" gegen Deutschland bezeichnet, und der Brief stellt in Abrede, dass "die deutsche Regierung unter Adolf Hitler - wie behauptet - sechs Millionen Juden ermordet hätte". "Die Briefe sind widerwärtig, ekelhaft und menschenverachtend", sagt Frei. Der Staatsschutz ermittelt. "Wir nehmen das sehr ernst." Die Ermittler haben Profiler eingesetzt, die bei der Aufklärung schwerer Verbrechen Fallanalysen erstellen. "Aber einen Treffer haben wir noch nicht", sagt Frei. Die Beamten vermuten, dass nur eine Person, eine Frau oder ein Mann, hinter der Kampagne steckt, denn Briefe und Umschläge sind bis ins Detail identisch.

Nur die Pseudonyme haben sich im Laufe der Monate verändert. Zuerst waren die Briefe mit Leni von Winkelried unterschrieben. Arnold von Winkelried ist eine mythische Figur der Schweizer Geschichte, die von den Nazis verehrt wurde. Ende 1944 wurde "Winkelried" als Ehrenname jenen Angehörigen der deutschen Kriegsmarine gegeben, die sich im Kampf "für Führer, Volk und Vaterland" opferten. Dann verwendete der Täter oder die Täterin als Pseudonyme Leni van Oost und schließlich Karin Wemhoff, mit dem auch der zweite Brief an den Sittenbacher Burschenverein unterschrieben war.

Kripochef Frei betont, dass die Adressaten ohne jeden persönlichen Bezug herausgesucht würden - es gebe da keine rote Linie. Der oder die Täter suchten einfach im Internet nach Adressen. Es müsse sich niemand Sorgen machen, man könne die Briefe wegwerfen oder Anzeige stellen. Alle Briefe wurden über das Briefzentrum in Starnberg verschickt, das halb Südbayern abdeckt, dort werden täglich etwa 1,5 Millionen Sendungen sortiert. Die spurentechnische Untersuchung hat kein Ergebnis erbracht. Der oder die Täter fassten Umschläge und Inhalt mit Handschuhen an. Es wurden auch nur selbstklebende Briefhüllen verwendet, die keine Speichelproben enthalten, anhand deren man eine DNA-Analyse machen könnte.

Sehr ernst nimmt den Vorfall auch Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler, der in Dachau lebt. Der Verfassungsschutz hat seine Hilfe gesucht. Seitdem steht Göttler mit einem Beamten der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus (Bige) in München in Kontakt. In dieser Einrichtung arbeiten Verfassungsschutz und Polizei zusammen. "Man muss den gesamten Hintergrund sehen", sagt Göttler. Vor vier, drei Jahren habe er nie gedacht, dass Verfassungsschutz und Heimatpflege zusammenwirken würden. Göttler beobachtet seit geraumer Zeit eine Zunahme von Einflussversuchen aus dem rechtspopulistischen Spektrum auf Traditionsvereine, zu denen auch die Burschenvereine zählen. So okkupierten etwa die Identitären und Reichsbürger den Heimatbegriff und missbrauchten ihn. Die große Mehrheit der Burschenvereine sei nicht gefährdet, den Einflussversuchen zu erliegen. Aber es gebe auch Grauzonen. Göttler warnt vor der Fehleinschätzung, rechtspopulistische Kreise seien besonders konservativ. Sie seien überhaupt nicht konservativ, sondern umstürzlerisch.

Die antisemitische Hetzkampagne ist nach dem Sommer abgeflaut - im September ist noch ein Brief aufgetaucht.

© SZ vom 11.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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