Szenario:Klassentreffen des nachkriegsmodernen Utopismus

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Alt und doch so jung: Fritz Auer bei seinem Vortrag in der Münchner Architektenkammer, den er mit Bildern illustrierte. Darauf zu sehen neben anderen Franz Josef Strauß (links) und Hans-Jochen Vogel (auf den Plan deutend). (Foto: Stephan Rumpf)

Die Planer aus dem Büro Günter Behnisch wagten für die Olympischen Spiele 1972 ein architektonisches Gesamtkunstwerk. Fritz Auer trug seinen Teil dazu bei. Seine Erinnerungen an diese Zeit voll Mut und kosmopolitischer Offenheit sind nun als Buch erschienen.

Von Gerhard Matzig, München

Es ist gegen Ende seiner Lesung in der Bayerischen Architektenkammer, als Fritz Auer am Mittwochabend unter lautem Beifall sagt: "Wir sind ein Volk von Bedenkenträgern geworden." Und hätte man nicht passgenau einige Bedenken, sich wieder mal den Rücken zu verreißen, man ist ja auch keine 30, 40 oder 50 mehr, so würde man sich jetzt hinreißen lassen. Denn eigentlich möchte man nach Auers Lesung "Ein Zeltdach für München und die Welt", die zum mitreißenden Vortrag wird, der wiederum als inspirierendes Fanal endet, man möchte aufspringen. Um was zu tun? Um Deutschland als Sondermülldeponie der Verzagtheit zu verlassen - oder, besser vielleicht, neu zu erfinden. Und München sowieso.

Der Schriftsteller Uwe Timm, 82 Jahre alt, der in der Reihe rechts vor einem sitzt, käme vielleicht mit. Der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl, 74, wäre womöglich auch dabei. Oder der Architekt Michael Gaenssler, 80. Vielleicht auch der Künstler Albert Hien, der als 66-Jähriger das Nesthäkchen wäre in dieser Seniorenrunde. Es ist wie auf einem Klassentreffen des nachkriegsmodernen Utopismus. Die Gästeliste der Bayerischen Architektenkammer zu Fritz Auers Lesung liest sich wie das (zeitgemäß männlich dominierte) Who's Who eines optimistischen Aufbruchsgeistes, der dieses Land geprägt hat - und der leider auch als gendergerechte Unisex-Variante selten geworden ist. Man sollte ihn zum Weltkulturerbe ernennen, wobei an diesem Abend Fritz Auer nicht allein als einer der maßgeblichen Planer des Olympia-Areals, sondern auch als unglaublich vitaler 89-Jähriger zum Denkmal seiner selbst wird. Im Grunde möchte man ihn und seine Gäste fragen: Wie könnt ihr eigentlich so alt und doch so jung sein? Und kann ich bitte auch was von euren Drogen bekommen?

Weggefährten Fritz Auers und höchst interessierte Zuhörer: (von links nach rechts) die Architekten Peter Seifert, Christine Kalteis und Heinrich Hopf; rechts vorne Eberhard Schunk. (Foto: Stephan Rumpf)

Eine dieser Drogen heißt möglicherweise Mut. Eine andere vielleicht Selbstvertrauen. Eine dritte aber könnte die Lust sein, etwas zu verändern, etwas zu gestalten, etwas zu wagen. Etwas, was in die Zukunft weist statt in die Vergangenheit. Davon handelt das Buch "Ein Zeltdach für München und die Welt: Die Verwirklichung einer Idee für Olympia 1972", aus dem Fritz Auer liest (Allitera Verlag, 196 Seiten, 30 Euro). An diesem Abend sind die signierten Exemplare bald vergriffen. Kein Wunder. Das Buch ist ein stimmungsaufhellendes Antidepressivum. Die Rechnung dafür begleiche bitte die Krankenkasse.

Wenn man rückenschonend darauf verzichtet, die Zukunft zu umarmen, das gilt nur für den Autor dieses Textes, dann möchte man doch zumindest wissen, wie es war, als sie vor einem halben Jahrhundert erfunden wurde. Ausgerechnet in München, wo man früher die Weißwurst (danke), später aber auch den architektonischen Mia-san-mia-Dumpfsinn erfunden hat (nein, danke). Ausgerechnet in München also, aber nicht nur für München, sondern auch für Deutschland - oder sogar, wie Fritz Auer als Mensch, dem ein gesundes Selbstbewusstsein, gleichzeitig aber auch eine kosmopolitische Offenheit zu eigen ist, sagen würde: "für die Welt".

War an diesem Abend schnell vergriffen: Fritz Auers Buch "Ein Zeltdach für München und die Welt: Die Verwirklichung einer Idee für Olympia 1972". (Foto: Stephan Rumpf)

Dass die Welt in diesen Tagen vor 50 Jahren zur Eröffnung der Olympischen Sommerspiele ein stadträumliches, architektonisches, landschaftliches und ingeniöses Gesamtkunstwerk von Weltrang erhalten hat, und zwar fristgerecht, wenn auch zu Kosten, die sich bald ins Astronomische verabschiedeten, gilt immer noch als Wunder. Dass es aber ein Abenteuer war, das Netflix verfilmen könnte: Davon handelt das Buch. Das übrigens auch nicht allein von Fritz Auer handelt, der vor allem für das technisch herausfordernde Zeltdach verantwortlich war, sondern in erster Linie vom Teamspirit.

Der Architekt betont häufig an diesem Abend, dass dieses Projekt des Fantastischen - gemessen an Fristen, Budget und technischem Neuland - ohne Gemeinschaftssinn niemals verwirklicht worden wäre. Und neben dem individuellen Mut, denkt man bitter, ist es wohl auch das gemeinschaftliche Wollen, das der Gegenwart so schmerzlich fehlt. Olympia 1972 wäre im Jahr 2022 ein Ding der Unmöglichkeit. Wie war das noch mal? "Wir sind ein Volk von Bedenkenträgern geworden."

Das Projekt war tollkühn. Die Planer wussten das.

Als Günter Behnisch als Chef des im Wettbewerb siegreichen, aber noch kaum bekannten Architekturbüros, zu dem vor allem Fritz Auer und Carlo Weber gehörten, wenige Monate vor der Eröffnung gefragt wurde, ob denn alles rechtzeitig zum Tag der Eröffnung fertig werde, soll er mit einer Gegenfrage geantwortet haben: "Meinen Sie am Vormittag oder am Nachmittag?" Das Projekt war tollkühn. Man wusste das. Aber "man", Planer, Organisatoren-Gesellschaft, arbeitete gemeinschaftlich daran, das Unmögliche möglich zu machen.

Man (!) muss sich erinnern, was die Jury einst zu dem ungewöhnlichen, in diesem Maßstab niemals zuvor erprobten Gespinst aus zeltähnlicher Membran und titanischem Stahlmikado sagte. Man könne, hieß es sinngemäß, leider absolut nicht abschätzen, ob der Entwurf technisch überhaupt umsetzbar sei; zwar sei er genial, möglicherweise aber außerdem auch unbaubar. Man muss sich weiterhin vorstellen, was der Münchner Stadtrat heute aus diesem Entwurf machen würde. Mit Blick auf das Dach aus Acrylglas, das sehr leicht auch eines aus Holz hätte werden können, wenn sich nicht der Mut, sondern das Bedenkenträgertum durchgesetzt hätte, vermutet Fritz Auer: "Dann sähe das Olympia-Areal heute aus wie eine gigantische Gartenlaube." Seine letzten Worte an diesem Abend lauten übrigens: "Wir hatten großen Spaß." Wieder was, was heute fehlt.

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