Sagen und Mythen:Der Bart der Prinzessin

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Die bärtige Frau am Kreuz machte Neufahrn bis in die 1920er-Jahre zu einem bedeutenden Wallfahrtsort. (Foto: Marco Einfeldt)

Die Christusfigur auf einem Kreuz in der Neufahrner Kirche soll der Legende nach die Heilige Wilgefortis darstellen. Sie soll dafür gebetet haben, einen Bart zu bekommen.

Von Birgit Grundner, Neufahrn

Die Geschichte von der Heiligen Wilgefortis ist zweifellos spannend, aber eigentlich beruht sie auf einem Missverständnis. Im späten 16. Jahrhundert kannte man nur Christusdarstellungen mit Lendentuch. An dem romanischen Kreuz in der Alten Kirche in Neufahrn ist aber eine Figur in langem, grün-blauen Kleid mit Lilienmuster zu sehen.

In der Ostkirche zum Beispiel waren solche Darstellungen durchaus verbreitet. Andernorts lag es anno dazumal aber für viele auf der Hand: Es musste sich um eine bärtige Frau handeln - sogar um eine Prinzessin. Anders als der gekreuzigte Jesus, hat die Figur den Kopf majestätisch leicht geneigt. Auf dem Kopf hat sie auch keinen Dornenkranz, sondern eine goldene Krone.

Wilgefortis kommt von "virgo fortis" - tapfere Jungfrau

Der Legende nach soll es sich um die zum Christentum bekehrte Tochter eines heidnischen Königs handeln. Der Name Wilgefortis kommt von "virgo fortis - tapfere Jungfrau". Sie soll ausdrücklich darum gebetet haben, dass ihr der Bart wächst, um so der Heirat mit einem Heiden und grausamen Christenverfolger zu entgehen.

Jedes Schulkind in Neufahrn kennt diese Geschichte, und wer schon einmal eine Kirchenführung mit dem studierten Historiker Ernest Lang oder dem inzwischen verstorbenen Heimatpfleger Josef Ritter mitgemacht hat, weiß, wie es mit der bärtigen Königstochter weitergegangen sein soll: Der erboste Vater des Mädchens, heißt es, ließ seine Tochter kreuzigen. Später bereute er das zutiefst. Nach seiner Taufe ließ er deshalb eine silberne Figur der Heiligen mit goldenen Schuhen anfertigen, vor der sich viele Wunder zutrugen.

Als einmal ein armer Geiger vor dem Bild spielte, soll Wilgefortis ihm einen der goldenen Schuhe zugeworfen haben. Der Musiker wurde daraufhin als Dieb zum Tode verurteilt, durfte dann aber noch mal vor der Heiligen spielen. Als sie ihm auch den zweiten Schuh zuwarf, war die Unschuld des Geigers bewiesen. Auch an diese überlieferte Geschichte erinnert eine Darstellung in der Alten Kirche an der Dietersheimer Straße.

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Das Kreuz wiederum sollen Holzfäller vor mehr als 600 Jahren bei Grüneck entdeckt haben, als es in der Isar gegen den Strom schwamm. Die Männer versuchten, es zu bergen und verletzten dabei mit der Axt einen Arm der Christusfigur, und "da ist pluet heraus gerünen". So steht es auf einer der sieben gotischen Bildtafeln aus dem Jahr 1527, auf denen die Auffindungsgeschichte des Kreuzes festgehalten ist und die im Chor sowie in einer Seitenkapelle aufgehängt sind. Auf Anraten des Bischofs von Freising wurde das Kreuz auf einen Halbwagen gelegt, vor den zwei Ochsen gespannt wurden, und die "habens her gen newfarn zogen". In Neufahrn waren die Tiere nicht mehr zum Weitergehen zu bewegen, was als himmlisches Zeichen gedeutet wurde.

Das "Blutwunder" soll sich wiederholt haben

An der Stelle, an der sie stehen geblieben waren, wurde das Kreuz aufgestellt. Dabei soll sich das "Blutwunder" wiederholt haben. Zu den weiteren Geschichten, von denen in der Folge berichtet wird, gehört auch die von einem Maler, der das Kleid der Figur rot gemalt hat und darauf das Augenlicht verloren haben soll. Erst als er gelobt hat, das Gewand wieder in der ursprünglichen blauen Farbe zu malen, "da ist er wider gesehend geworden".

Das Kreuz war vom 16. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre Ziel zahlreicher Wallfahrten. Neufahrn wurde zur Hauptkultstätte der Heiligen Wilgefortis - auch Kümmernis genannt - im süddeutschen Raum. Jährlich kamen bis zu 50 Pilgergruppen und auch Prominenz. So pilgerte der Freisinger Fürstbischof Veit Adam im 30-jährigen Krieg dreimal nach Neufahrn und hat dort sogar gepredigt, was seinerzeit die Ausnahme war. Die bayerische Kurfürstin Maria Anna kam zwar nicht persönlich, aber sie stiftete die stattliche Summe von 100 Dukaten für den Hochaltar.

Neufahrn bot den Hilfe suchenden Pilgern gleich mehrere "überirdische Helfer" an: vom Viehpatron St. Leonhard über den Pest-Heiligen St. Rochus bis hin zu den Heiligen Jungfrauen, die den Sterbenden Beistand leisten sollen. Im Mittelpunkt der Wallfahrt stand aber Wilgefortis als Schutzpatronin der Jungfrauen und Dienstmägde sowie als Helferin bei Frauenleiden.

Die Holzfigur wird auf die Mitte des zwölften Jahrhunderts datiert

Ähnliche Geschichten wie die von der Heiligen Wilgefortis in Neufahrn werden in anderen Gegenden erzählt, und wirklich belegen lässt sich das meiste nicht. Aber man weiß auch: Im Gegensatz zu Märchen haben Legenden immer einen historischen Kern. Für Kunsthistoriker ist das Kreuz jedenfalls eines der ältesten Zeugnisse christlichen Glaubens im Bistum Freising, und es gehört zu den ältesten Holzbildwerken Bayerns. Der fast 1,50 Meter große romanische Korpus, der 1660/61 in den neuen barocken Hochaltar integriert wurde, wird auf die Mitte des zwölften Jahrhunderts datiert. Die Christusfigur zählt zu den ältesten Holzplastiken Bayerns.

Früher war es durchaus üblich, Mädchen auf den Namen Wilgefortis zu taufen. Auch einer der beiden Neufahrner Pfarrkindergärten ist nach der Heiligen benannt. Das Kreuz ist bis heute zentrales Element des Neufahrner Wappens. Auf diesem ist außerdem ein Zahnrad abgebildet: das Symbol für die Industrie, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in Neufahrn angesiedelt hat.

Die Kümmernis-Wallfahrt ist dagegen im Zug von Aufklärung und Säkularisation um 1800 eingeschlafen. Doch auch im zweiten Weltkrieg fanden noch regelmäßig Wilgefortis-Ämter und Andachten statt.

© SZ vom 10.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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