Interview zu Jugendarbeit:"Ich denke, dass meine Arbeit sinnvoll war"

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Nach 35 ereignisreichen Jahren bei der Stadtjugendpflege und unzähligen Ferienaktionen geht Paul Daimer Ende September in den Ruhestand. (Foto: Marco Einfeldt)

Paul Daimer geht nach 35 Jahren bei der Stadtjugendpflege in den Ruhestand. Die Jugendarbeit hat sich in dieser Zeit stark verändert - nicht nur, aber auch wegen der Helikopter-Eltern.

Interview von Florian Beck, Freising

Nach 35 ereignisreichen Jahren bei der Stadtjugendpflege und unzähligen Ferienaktionen, die weit über 1000 Kindern pro Jahr den Sommer versüßten, geht Paul Daimer Ende September in den Ruhestand. Zeit für ein Gespräch über die veränderte Wahrnehmung der Jugendarbeit, über Helikopter-Eltern und das Gefühl der ersten Liebe.

SZ: Sie haben bereits 1981 im Rahmen eines Praktikums bei der Stadtjugendpflege angefangen, sind also quasi ein Gründungsmitglied des Jugendzentrums an der Kölblstraße. Wie haben sich die Verhältnisse in der Jugendarbeit seit damals geändert?

Paul Daimer: Früher waren quasi alle Angebote auf ehrenamtlicher Basis. Heute ist das Ganze eher so eine Art soziale Dienstleistung, die von den Kommunen angeboten wird und diese Dienstleistung wird nicht mehr als Ehrenamt gesehen, sondern eingefordert. Die Leute haben das Gefühl, sie hätten einen Anspruch darauf, wohingegen man früher noch mehr selbst partizipieren wollte.

Wie finden Sie es, dass diese Angebote vielerorts erwartet und vorausgesetzt werden?

Man kann sich nicht die Jugend schnitzen, die man sich wünscht. Man muss immer mit der Zeit mitgehen. Jugend bedeutet für mich Veränderung. Wer sich einen Job wie den meinen aussucht, der muss auch bereit sein, diese Veränderung mitzumachen.

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Viele Ihrer Angebote beinhalten auch sehr abenteuerliche Aktionen wie etwa Quadfahren, Gokartfahren, Klettern oder Tauchen. Erstaunt es Sie manchmal, dass Ihnen trotzdem so viele Eltern ihre Kinder anvertrauen?

Momentan gibt es in unserer Gesellschaft ein übertriebenes Sicherheitsdenken. Es gibt immer mehr Sicherheitsauflagen, die Kinder haben alle ihr Handy dabei und bei der kleinsten Kleinigkeit wird zweimal hinterhertelefoniert. Ich halte dieses Helikopter-Eltern-Phänomen für ziemlich problematisch. Wenn man etwa bei den Sportevents elf- oder zwölfjährige Kinder eine zwölf Meter hohe Kletterwand hochklettern lässt, dann gehört das Scheitern dabei genauso dazu, wie das Erfolgserlebnis am Ende, die Wand nach unzähligen gescheiterten Versuchen erklommen zu haben. Das ist meines Erachtens weder fahrlässig noch ein Hinführen zu Gefahren, das ist Hilfe zur Lebensbewältigung. Wenn Eltern die damit verbundenen Risiken von Haus aus ausschließen, ist ihr Kind im Grunde genommen in seiner Entwicklung von Anfang an im Nachteil.

Sie haben gerade schon das Stereotyp der Helikopter-Eltern angesprochen: Wird dieses Verhalten durch ein großes Ferienprogramm wie Sie es anbieten nicht noch gefördert? Wäre es da nicht besser, die Kinder sich selbst beschäftigen zu lassen?

Dieses Sich-selbst-beschäftigen hatten wir in meiner Kindheit in den siebziger Jahren noch, allerdings hat sich die Lebenswelt dafür seitdem einfach zu sehr verändert. Es laufen ehrlich gesagt immer mehr Verrückte rum, sehen Sie sich nur die ganzen Missbrauchsfälle an. Außerdem hat der Verkehr gerade auch in Freising extrem zugenommen, da wird das dann schnell gefährlich. Und auch das Angebot an freien Plätzen hat sich geändert: Auf Baustellen, auf denen wir früher sofort rumgehüpft wären, steht heute gleich ein Verbotsschild oder gar ein Wachdienst. Diese so wichtigen Freiräume sind über die Jahre immer mehr weggenommen worden. Unsere Aufgabe als Jugendpfleger besteht also darin, diese Räume wieder zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass es innerhalb dieser Räume keinen Lernzwang gibt, keine Anwesenheitspflicht, keinen Druck.

Sie gehen ja Ende September in Rente und lassen vieles, das Sie selbst aufgebaut haben, zurück. Was für Gefühle löst das in Ihnen aus?

Kinder zu betreuen hätte ich bestimmt noch zehn Jahre so machen können, aber die Struktur und die Organisationsformen innerhalb der Verwaltung sind für mich so strikt und einengend geworden, dass ich quasi mit einem weinenden und einem lachenden Auge gehe. Weinend, weil das Kinderprogramm nach wie vor super ankommt - wir hatten im Januar zum Beispiel eine Skifreizeit mit zwei vollen Reisebussen voller Zwölf- bis 15-Jähriger und mit denen komme ich vermutlich besser zurecht als so mancher Altersgenosse von mir - und lachend, weil sich hier alles so etabliert hat, was in meiner Anfangszeit noch im Werden begriffen war und wo man gar nicht genau wusste, was hier eigentlich abgeht. Das war das wirklich Schöne damals.

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Was bleibt Ihnen aus insgesamt 35 Berufsjahren am deutlichsten in Erinnerung?

Einmal sind wir zur Eishöhle in Marktschellenberg im Berchtesgadener Land gewandert. Als wir aus der Höhle, die wir besichtigt hatten, wieder rauskamen, war es draußen total neblig. Auf dem Rückweg nach unten hat keiner mehr den anderen gesehen. Es ging da teilweise echt steil runter. Wenn da einer runtergefallen wäre, dann wäre ich dran gewesen, das war echt fahrlässig, hätte ich nicht machen dürfen - das weiß ich alles. Aber ich habe halt Glück gehabt. Und man hat gesehen: Kinder oder Jugendliche - wenn sie denn tatsächlich dem Risiko ausgesetzt werden - sind oft cleverer als Erwachsene. Der letzte Betreuer kam unten an der Seilbahn an, da war das letzte Kind schon eine halbe Stunde dort.

Haben Sie schon Pläne für Ihren Ruhestand?

Ich fliege erst mal nach Amerika. Mein Cousin betreibt dort eine große Schreinerei und hat auch ein Haus, in dem das erste Stockwerk frei ist. Ich war seit 2010 bestimmt schon mindestens sechs mal zu Besuch bei ihm und habe auch Kleidung, Zelt und einen Schlafsack schon drüben.

Werden Sie ihren Job vermissen, wenn Sie erst mal ein paar Monate weg sind?

Na ja, irgendwann muss auch mal Schluss sein (lacht). Wehmütig werde ich nicht zurück schauen, sondern eher mit einer gewissen Befriedigung. Ich glaube nämlich, dass viele meiner ehemaligen Kommilitonen oder Klassenkameraden jetzt am Ende ihres Berufslebens enttäuschter sein werden als ich. Ich denke, dass meine Arbeit absolut sinnvoll war. Ich sehe das immer wieder bei den Kindern, wenn sie aus einer Veranstaltung rausgehen und einen schönen Tag mit tollen Erlebnissen hatten: Da bleibt einfach etwas hängen. Wenn Kinder in einem gewissen Alter das erste mal unter freiem Himmel schlafen, das erste mal Lagerfeuerromantik erleben, das erste mal zelten, das erste mal eine Nacht von den Eltern weg sind, dann sind das vollkommen archaische Erlebnisse, die ich immer gerne mit dem Gefühl vergleiche, das man hat, wenn man das erste mal verliebt ist.

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