Junger Iraker im Jugendwerk Birkeneck:Ausnahmezustand

Lesezeit: 2 min

Den jungen Iraker Saad Aljafry treffen die Ausgangsbeschränkungen infolge der Coronakrise hart.

Von Laura Dahmer, Hallbergmoos

Saad Aljafry macht sich Sorgen wegen des Coronavirus. Nicht, weil er glaubt, es könne ihn gesundheitlich schwer treffen. Vielmehr ist der 21-Jährige besorgt, weil er merkt, wie schwer es vielen fällt, sich an die Ausgangsbeschränkungen zu halten. Und er ist besorgt, weil er selbst seine Familie im Moment nicht besuchen kann, weil er nicht Theater spielen und seine Kollegen bei der Freiwilligen Feuerwehr sehen kann. Dabei ist die Coronakrise nicht die schlimmste Krise, die Saad Aljafry in seinem Leben durchgemacht hat: Vor vier Jahren kam der junge Iraker über die Balkanroute nach Deutschland. Als Jeside hatte er in seiner Heimat nie einen leichten Stand, aber als die IS-Milizen ins Gebiet kamen, musste er endgültig fliehen.

Mittlerweile ist Aljafry in Hallbergmoos angekommen und bestens integriert. Er ist beim Theaterverein "Udei" des Freisinger Regisseurs und Bühnenbildners Thomas Goerge, Mitglied der Volkssternwarte München und bei der Freiwilligen Feuerwehr Goldach aktiv. Außerdem macht er gerade seine Ausbildung zum Elektriker, beim Jugendwerk Birkeneck, einer Einrichtung für Jugendliche und unbegleitete Flüchtlinge, die gleichzeitig sein Zuhause ist. Weil der 21-Jährige so aktiv ist und eigentlich jeden Tag von Menschen umgeben, treffen ihn die Einschränkungen der Coronakrise hart. Ihm fehlt die Gesellschaft der Feuerwehrleute und seine Familie. "Mein Bruder und meine Schwester wohnen beide in Freising, ich darf sie gerade nicht besuchen", sagt Saad Aljafry. Einzig mit seinen Mitbewohnern, die mit ihm im Jugendwerk zusammenwohnen, darf der Iraker Kontakt haben.

In Birkeneck leben etwa 100 Jugendliche, unterteilt in Gruppen. "Kontakt über die eigene Wohngruppe hinaus ist nur in Ausnahmefällen möglich", erklärt Martin Wallner, Erziehungsleiter des Jugendwerkes. Aufgrund der aktuellen Situation hat das Jugendwerk entschieden, dass keiner außer den Mitarbeitern von Außen rein darf und die Bewohner das Gelände nur in dringenden Fällen verlassen dürfen. Bald hofft man, sagt Wallner, diese Beschränkungen wieder etwas lockern und die Jugendlichen zumindest in dringenden Fällen und unter strengen Auflagen zu ihren Familien lassen zu können.

Das Neujahrsfest musste Aljafry alleine feiern

Besonders traurig war Saad Aljafry darüber, dass er das Neujahrsfest der Jesiden, das Çarşema Serê Nîsanê, alleine von Zuhause aus feiern musste. "Für uns ist es das wichtigste Fest im Kalenderjahr. Und es ist ein Fest, an dem man eigentlich zusammenkommt und neue Menschen kennenlernt." Der 21-Jährige fährt dafür jedes Jahr nach München und verbringt den Tag mit anderen Gläubigen in einem großen Saal. "Jeder bringt Essen mit, es werden Reden gehalten, es wird musiziert und getanzt." Dieses Jahr hatte Aljafry mit Freunden und Familie nur über Videoanruf Kontakt, wegen des besonderen Anlasses hat er sich selbst Kutilk gemacht, traditionelle irakische Maultaschen. "Die sind bei uns, was in Bayern Knödel und Schweinshaxen sind", bemerkt er lachend.

Aljafry hofft, dass das Leben bald wieder weitergehen kann. Er ist im letzten Ausbildungsjahr, eigentlich stehen in den nächsten Wochen einige Zwischenprüfungen an, die jetzt nicht stattfinden können. "Auch meine Gesellenprüfung, die ich eigentlich nächstes Jahr im Februar ablegen wollte, wird auf unbestimmte Zeit verschoben", erzählt er. "Ich würde danach gerne mein Abitur nachholen und hoffe jetzt, das klappt alles."

Der 21-Jährige merkt selbst, dass es schwer sein kann, sich in der Coronakrise an die geltenden Beschränkungen zu halten. Er weiß aber auch: Es ist eigentlich nicht viel. "Auf meiner Flucht musste ich mit dem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland reisen. Das Schlauchboot war winzig, wir waren 50 Leute, die Reise hat über zwei Stunden gedauert." In Momenten wie diesen habe er sich gedacht: entweder sterben oder weiter nach Europa, mit der Chance auf eine Zukunft. "Hier in Deutschland herrscht kein Krieg, die meisten haben noch keine solche Krise erlebt", sagt der Iraker. "Ich verstehe, dass es vielen deshalb schwer fällt. Aber was ist am Ende schon ein bisschen Abstand halten?"

© SZ vom 27.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Corona-Verdacht in Flüchtlingsheimen
:"Die Leute waren praktisch eingesperrt"

Abstand halten, soziale Kontakte vermeiden - in Unterkünften mit Hunderten von Geflüchteten ist das unmöglich. Die Corona-Krise stellt Bewohner und Helfer vor extreme Herausforderungen. Einheitliche Notfallpläne gibt es nicht.

Von Antonie Rietzschel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: