Als die Bomben auf Freising fielen:22 Minuten im April

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In der Nähe des Bahnhofs war einst die Eisengießerei Frimberger gestanden. Als diese Aufnahme gemacht wurde, gehörte das Gelände bereits Anton Schlüter. Beim Bombenangriff auf den Freisinger Bahnhof wurden die Fabrikhallen zerstört. (Foto: privat)

Der Historiker Ernst Keller schreibt ein Buch über den Fliegerangriff auf Freising, der bislang nicht ganzheitlich erforscht wurde. Eine erste Hörprobe gibt es im Radio.

Von Alexandra Vettori, Neufahrn/Freising

Eigentlich wollte Ernst Keller, Heimatforscher aus Neufahrn, vor zwei Jahren über die Gerichtsbarkeit im Landkreis schreiben, "da gibt es eine ganz tolle Geschichte von einer Räuberbande", erzählt er. Dann aber kam ihm die Anfrage der bayerischen Flugzeughistoriker dazwischen, die im Wald zwischen Massenhausen und Fürholzen einem ungelösten Flugzeugabsturz während des Zweiten Weltkriegs nachforschten. Keller wusste von einem alten Bauern, wo die Absturzstelle war, man grub, fand das Typenschild und danach die Identität des toten Piloten. So kam Ernst Keller zum Zweiten Weltkrieg und zum Bombenangriff auf Freising am 18. April 1945.

Keller drehte einen Film über die Recherchen, und weil die Resonanz gar so überwältigend war - Hunderte kamen zu den Vorführungen und immer mehr Zeitzeugen meldeten sich bei ihm - schrieb er schließlich auch noch ein Buch. Das ist jetzt kurz vor der Fertigstellung, am Donnerstag, 16. November, wird es um 18.30 Uhr im Freisinger Furtnerbräu vorgestellt. "Freising hat Historiker genug, da braucht es kein Buch von mir", so hatte er sich eigentlich gedacht.

Keller wälzte die Staatsanwaltschafts-Akten der Dachauer Prozesse und stöberte in amerikanischen Archiven

Dann aber führte Keller ein Gespräch mit dem Freisinger Stadtarchivar, der ihn vom Gegenteil überzeugte: In seiner Gesamtheit erforscht hat das Ereignis noch keiner. Und so hat sich Keller ans Werk gemacht. Er hat Staatsanwaltschafts-Akten der Dachauer Prozesse gewälzt, in amerikanischen Archiven gestöbert und erstaunlich genaue Daten zusammen getragen.

So weiß man heute, dass damals im April 60 Flugzeuge in Südostengland gestartet sind, die der 8. US-Luftflotte und der 1. und 457. Bomb-Group, eine Art Geschwader, angehörten. Und, dass eigentlich Traunstein bombardiert werden sollte. Man hatte auch damit angefangen, dann aber zogen Wolken auf und erschwerten die Sicht, sodass die Bomber abzogen und das Ersatzziel ansteuerten - Freising. Militärisches Ziel waren Rangierbahnhöfe und Strom-Umspannwerke. Von 14.53 Uhr bis 15.15 Uhr dauerte der Angriff, der nicht nur das Bahnhofsviertel zerstörte, sondern wegen der großen Streuung zum Beispiel auch viele Häuser in der Kochbäckergasse, ein reines Wohnviertel. Im Buch gibt es viele bislang unveröffentlichte Fotos, darunter auch zwei Luftbildaufnahmen, vorher und nachher, die Keller in einem Luftbild-Archiv in Schottland fand. Die britische Armee legte großen Wert auf Dokumentation.

Durch die Recherchen haben die Leute angefangen über ihre dramatischen Schicksale zu reden

Der zweite Teil des Buches ist den vielen dramatischen Schicksalen der Zeitzeugen gewidmet. "Durch meine Recherchen haben die Leute zum Reden angefangen, manche haben mir erzählt, dass sie sich danach auch privat getroffen haben, um sich auszutauschen", so Keller. Mit rund 70 Zeitzeugen hat er sich schon für den Film unterhalten, danach haben sich weitere 20 gemeldet. Keller hat all ihre Geschichten gesammelt, darunter auch die einer Gruppe Kinder in der Kochbäckergasse. Sie waren draußen beim Spielen, als die Sirenen ertönten. Sie liefen ins Haus und sahen auf der Klapptüre zum Keller Säcke stehen. Im Glauben, darin sei Getreide, und die Säcke zu schwer zum Beiseiteschieben, rannten die Kinder nach hinten in den Garten, wo die Viehställe waren, und versteckten sich dort. Ihr Glück, denn eine Bombe traf das Wohnhaus und brachte es zum Einstürzen, auch der Keller wurde verschüttet. "Danach hat man festgestellt, dass in den Säcken Federn waren, doch der Irrtum hat den Kindern das Leben gerettet", so Keller.

Besonders berührt haben ihn auch die Akten der Münchner Kriminalpolizei, die gleich am nächsten Tag die Ermittlungen in Freising aufnahm. Die Liste der gefundenen Toten ist akribisch genau gehalten, bis hin zum Ernährungszustand reichen die Schilderungen, auch wenn viele nicht mehr identifiziert werden konnten, weil die Leichen völlig verkohlt oder zerstückelt waren. Er selbst, so Keller, habe jetzt 200 der mindestens 260 registrierten Toten identifiziert. Wie viele es wirklich warne, weiß niemand. So standen an diesem Donnerstagnachmittag 1945 direkt am Bahnsteig auch 18 Mädchen vom "Bund deutscher Mädchen", sagt Keller, "von ihnen hat man aber nichts mehr gefunden, man weiß bis heute nicht, woher sie waren."

Wer vorab eine Hörprobe haben möchte, kann am Montag, 16. November, im Radiosender BR Heimat einen Live-Bericht über Kellers neues Buch hören, Beginn ist um 10 Uhr.

© SZ vom 19.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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