Hochwasser in Dorfen:"Uns hat man damals für verrückt erklärt"

Lesezeit: 7 min

Mehr als 100 Tage nach der Hochwasserkatastrophe werden die Betroffenen Weihnachten nicht in den eigenen vier Wänden verbringen. Und die Stadt Dorfen muss sich den Vorwurf von Versäumnissen gefallen lassen.

Von Thomas Daller, Dorfen

Vor rund 100 Tagen, am 30. August, musste der Landkreis Erding den Katastrophenfall ausrufen: Durch die Siedlung Am Seebach im Dorfener Ortsteil Oberdorfen war eine Hochwasserwelle geschwappt, die 30 Häuser geflutet hat. 22 dieser Häuser sind immer noch unbewohnbar, Weihnachten in den eigenen vier Wänden ist dort undenkbar. Für viele wird es Ostern werden, bis sie wieder nach Hause können. Die Betroffenen haben bereits mit dem Eigenschutz begonnen, lassen hochwasserdichte Kellerfenster und Terrassentüren einsetzen. Aber sie fordern zudem, dass auch die Stadt Dorfen nun zügig die Siedlung mit weiteren Maßnahmen schützt.

In den Tagen vor der Katastrophe hatte es tage- und nächtelang geregnet, dennoch waren die Niederschlagswerte weit von denen eines 100-jährigen Hochwassers entfernt. Doch die Böden waren voll und ein Stück bachaufwärts, hinter der aufgeschütteten Straße nach Esterndorf, staute sich das Wasser immer höher. Kurz nach 9 Uhr brach eine mächtige Welle darüber. Oliver Hecker wird das traumatische Erlebnis nicht vergessen. Er saß im Wintergarten in seinem Schaukelstuhl mit Blick auf seinen idyllischen Garten, der unmittelbar am Seebach liegt. Innerhalb von Sekunden rauschte die Welle heran, der Bach trat über die Ufer, flutete seine Terrasse und die Kellerschächte.

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Die Kellerfenster brachen unter der Wasserlast, in Sturzbächen lief es in das Haus. "Es hörte sich an wie eine brechende Ozeanwelle", sagte der 57-jährige Deutschlehrer. Sekunden später gaben auch die Bodenplatten vor dem Wintergarten nach und auch hier drang das Wasser ein. Zusammen mit seiner Frau verließ er fluchtartig das Haus in letzter Minute, wobei sie Mühe hatten, die Haustüre noch öffnen zu können.

Seither ist nichts mehr wie es war: Sie wohnen jetzt in einem möblierten Appartement in Dorfen. Viele Dinge sind verloren gegangen, alte Fotos und Unterlagen, persönliche Erinnerungsstücke, wertvolles altes Geschirr und dergleichen mehr. Jeden Tag besichtigen sie ihr Haus, das jetzt eine Baustelle und verdreckt ist. Hecker ist verärgert und ausgelaugt von dem ständigen Hin und Her zwischen Firmen, Gutachtern und der Versicherung, die nicht alles bezahlen will. Häufig geschehen Fehler und sogar Schäden durch eine Abbruchfirma.

Andererseits ist er aber auch dankbar: Er hat zumindest ein Dach über dem Kopf und die Miete zahlt die Versicherung. Am meisten beeindruckt habe ihn aber die "unglaubliche Hilfsbereitschaft" der Dorfener Bürger in den Tagen und Wochen nach dem Unglück: Vereine, Nachbarn und Freiwillige aus der ganzen Stadt seien sofort auf der Matte gestanden, nachdem die Feuerwehr die Siedlung wieder frei gegeben habe. Sie hätten Keller freigeräumt, Essen gebracht, Waschmaschinen organisiert und individuelle Probleme gelöst. "Die Leute haben uns in den Arm genommen und getröstet", sagte Hecker sichtlich gerührt.

Kritiker werfen der Stadt vor, nicht genügend Maßnahmen für die Zukunft zu ergreifen

Aber er muss auch den Blick in die Zukunft richten, wie es weitergehen soll. Sein Haus hat enorm an Wert verloren, er kann es in diesem Zustand nicht oder nur mit großem Verlust verkaufen. Und er hängt auch an Dorfen, gerade jetzt, nach dieser Welle der Hilfsbereitschaft. Er fürchtet jedoch das nächste Hochwasser, jeder Regentropfen versetze ihn in Alarmbereitschaft. Mittlerweile weiß er nämlich, dass die Siedlung kein "Feuchtgebiet" ist, wie es im Exposé beim Grundstückskauf stand, sondern ein Überschwemmungsgebiet, und das seit jeher. Alteingesessene Nachbarn, die auf höher gelegenen Grundstücken gebaut haben, hätten niemals in diese Senke gebaut, habe er mittlerweile erfahren. Auch die Starkregenkarte, die die Stadt 2018 erstellen lies, dient nicht seiner Beruhigung.

Voraussichtlich wird es Ostern werden, bis die Bewohner wieder einziehen können, sagte Simone Ascher (Foto), bei der das Wasser im Wohnzimmer 50 Zentimeter hoch stand. (Foto: Renate Schmidt)

Warum dort überhaupt ein Baugebiet ausgewiesen werden konnte, ist eine merkwürdige Geschichte. Denn vorher war es eine reine Lagerfläche der Baufirma Josef Mittermaier. Baumaterialien wurden dort gelagert, allerdings auf Paletten, da die ganze Wiese häufig überschwemmt und sumpfig war. Das einst florierende Unternehmen ging 1999 in Konkurs. Zur Konkursmasse zählte auch dieses Betriebsgelände, das an die Gläubigerbank ging. Josef Mittermaier war in Dorfen ein geachteter Bürger, der viele Jahre für die CSU im Stadtrat saß. Vielleicht nahm man es deshalb nicht so genau, als es um den Bebauungsplan für ein Wohngebiet ging.

Am Seebach in Oberdorfen im Dezember 2021: Auch Monate nach der verheerenden Sturzflut mussten viele Häuser immer noch getrocknet werden. (Foto: Renate Schmidt)

Das Wasserwirtschaftsamt (WWA) jedoch warnte: Das Gebiet müsse vorher aufgefüllt und dafür an anderer Stelle Rückhalteraum für das Wasser geschaffen werden. Aber das sumpfige Gebiet wurde nicht wie erforderlich aufgefüllt, das hat das WWA anhand der Höhenlinien festgestellt. Auch Retentionsflächen stehen nur auf dem Papier. Oliver Hecker, der am Nordufer des Bachs gebaut hat, zeigt auf das Südufer: Dort sollte eine Senke angelegt werden, wo sich das Wasser sammeln könnte. Doch das Gegenteil ist der Fall: Es handelt sich um einen Hang, von dem zusätzlich Wasser in den Seebach fließt. Die Stadt hätte ihn erwerben und abschieben müssen. Das ist unterblieben, angeblich sei man sich beim Grundstückspreis nicht einig geworden.

2004 zogen die Heckers in ihr Haus ein, 2005 war der Garten erstmals halb überschwemmt. 2013 stand das Wasser bereits bis zur Terrasse. Immer wieder habe er deswegen Kontakt zum WWA aufgenommen, das die Stadt aufgerufen habe, ihre Hausaufgaben zu machen und den Bachlauf zu pflegen. "Uns wurde vom Wasserwirtschaftsamt eindringlich empfohlen, gegen die Stadt eine Sammelklage anzustreben", sagte Hecker. "Wir wollten eigentlich eine einvernehmliche Lösung mit der Stadt erreichen, sind aber nicht davon überzeugt, dass diese rechtzeitig vor der nächsten Flut entsprechende Maßnahmen ergreift."

Das sind massive Vorwürfe gegen die Stadt Dorfen, die das Wasserwirtschaftsamt der SZ auch bestätigt: Christian Leeb, Leiter des WWA München, sagte, dass Auflagen im Rahmen des Bebauungsplans nicht erfüllt worden seien. Das WWA habe die Stadt Dorfen 2006 und 2013 wiederholt zum Handeln aufgefordert. Beim Hochwasser im August habe das Wasserwirtschaftsamt die Überflutungshöhe vor Ort gemessen, sagte Leeb. Die Niederschlagsmenge, die am Seebach die Siedlung geflutet habe, seien 50 Millimeter gewesen. Von einem hundertjährigen Hochwasser, das mit 446 Millimetern berechnet werde, sei das noch weit entfernt. 50 Millimeter würden statistisch als zweijähriges Ereignis gelten. Mit anderen Worten: Dieser Albtraum für die Anwohner kann sich jederzeit wiederholen. Ob einer seiner Mitarbeiter den Anwohnern die Empfehlung gegeben habe, zu klagen, weiß Leeb nicht. Er hält jedoch eine Normenkontrollklage gegen die Stadt Dorfen, weil sie ihren Bebauungsplan nicht erfüllt habe, ebenfalls für möglich.

Gegenüber dem WWA und den Anwohnern hatte die Stadt Dorfen angegeben, die Grundstücke für den Hochwasserschutz seien nicht verfügbar gewesen. Unter den Betroffenen am Seebach kursiert die Aussage, dass auf der angrenzenden Wiese, durch die die Welle geschwappt ist, bereits vor 15 Jahren ein Damm errichtet worden wäre, wenn die Kirche als Grundbesitzer die Wiese an die Stadt verkauft hätte. Das dementierte das Erzbischöfliche Ordinariat auf Anfrage der SZ: "Es stimmt nicht, dass die Kirche die Wiese nicht für den Hochwasserschutz zur Verfügung stellen wollte. 2006 gab es einen Ortstermin mit Vertretern der Stadt, seither gab es diesbezüglich keinerlei Kontaktaufnahme mehr von Seiten der Stadt. Es gab auch nie einen offiziellen Antrag. Wir haben nie gesagt, dass wir die Wiese nicht verkaufen würden und hätten auch aktuell keinerlei Einwände, das Grundstück für den Hochwasserschutz nutzen zu lassen", hieß es dazu in einer Stellungnahme.

Ein paar Häuser weiter vorne zur Hauptstraße hin, wo das Gelände ein wenig ansteigt, wohnen Odin Vollrath und seine Frau Anette Flapp-Vollrath. Durch diese Lage ist ihr Erdgeschoss vom Hochwasser verschont geblieben, aber der Keller lief voll. Der Bauschaden beläuft sich bei ihnen auf etwa 50 000 Euro und weitere 10 000 bis 15 000 Euro für den Hausrat. "Wenn klar gewesen wäre, dass es sich hier um ein Überschwemmungsgebiet handelt, hätte ich das Haus 2002 nicht gekauft", sagt er. Als "Feuchtgebiet" sei es eingestuft, habe man ihm erklärt. Deswegen habe er den Keller als "weiße Wand" wasserdicht ausführen lassen. Das, so habe er gedacht, sollte genügen. Versichert ist er nicht. Und jetzt nimmt ihn auch keine Versicherung mehr, das ginge nur, wenn er zehn Jahre lang keinen Vorschaden hat. Vor dem Bau der Siedlung hätte man das Gelände einen Meter höher auffüllen und auf angrenzenden Flächen Retentionsraum schaffen müssen, sagt Vollrath und beruft sich dabei auch auf Aussagen des WWA. "Wir haben von der Stadt auf ganz viele Fragen keine Antworten erhalten."

Auch er ist unschlüssig, ob er sich im Falle einer Sammelklage den Anwohnern anschließen wolle. Er will erst sehen, ob die Stadt nun zügig die versprochenen Maßnahmen umsetzen wird. Dass das mit der Anhebung des Dammes, auf dem die Esterndorfer Straße verläuft, nicht ganz so schnell gehen wird, ist ihm klar. Auch das angekündigte Informationssystem zu Pegelmessungen mit entsprechenden Alarmmeldungen, das noch in diesem Jahr kommen sollte, stehe noch nicht.

Von einem "schleppenden Umsetzungsprozess" spricht auch Ralph Klinger. Er ist ebenfalls Betroffener und Siedlungssprecher in dieser Sache. Wobei er bei dem fehlenden Pegelsystem die Schuld nicht bei der Stadt sieht: Das habe eine Lieferzeit von bis zu sechs Monaten. Klinger verhandelt immer wieder mit Bürgermeister Heinz Grundner (CSU). Diese Gespräche seien "sehr konstruktiv", lobt Klinger. Die Stadt sei bemüht, die Mängel der Vergangenheit zu beheben. Persönliche Vorwürfe wolle er Grundner nicht machen, weil das Baugebiet vor seiner Amtszeit beschlossen worden sei. Allerdings vermisse er die erforderliche Transparenz: "Bei etlichen Nachfragen von unserer Seite hält man sich sehr bedeckt."

"Viele in der Siedlung investieren in Eigenschutz", sagt Klinger. Auch bei ihm sind Keller und Erdgeschoß vollgelaufen, den Estrich musste er herausreißen. Er will mindestens hochwasserdichte Kellerfenster und Terrassentüren einsetzen lassen. Aber neben diesem Eigenschutz "muss auch was von der Stadt kommen". Dabei müsse man das ganze Gebiet betrachten. Es sei nicht zielführend, wenn allein die Siedlung am Seebach geschützt werde und stattdessen das bachabwärts gelegene Niederham absaufe. Dafür werde jetzt ein Ingenieurskonzept aufgestellt. Die Anwohner des Seebachs hätten dabei ein großes Interesse, dieses Konzept einzusehen und mit dem Planungsbüro darüber zu diskutieren. Man habe daher einen Arbeitskreis geplant "und der Bürgermeister hätte uns gerne in diesem Arbeitskreis dabei", sagt Klinger. Er klingt dabei etwas zuversichtlicher als Oliver Hecker. Der versteht allmählich, warum die Siedlung nur an "ahnungslose Zuagroaste" verkauft worden sei und sich kein Dorfener beworben habe: Eine benachbarte Bäuerin, die in einem höher gelegenen Hof wohnt, habe jemandem aus der Siedlung erzählt, dass es vor 30 Jahren ein viel schlimmeres Hochwassergegeben habe, bei dem sogar sie nasse Füße bekommen hätte. "Hätte unser Haus schon damals existiert, wäre das Wasser wohl im ersten Stock gestanden", sagte Hecker. "Der inzwischen verstorbene Bauer hat uns damals gewarnt und für verrückt erklärt, hier zu bauen. Jetzt weiß ich, was ihr Mann damals gemeint hatte."

Bei der Stadt Dorfen ist man hingegen der Ansicht, man habe nichts falsch gemacht. Dieser Bebauungsplan sei im Stadtrat 2001 einstimmig beschlossen worden. Dabei sei eine Retentionsfläche berücksichtigt worden, die auf privatem Grund lag. Diese konnte man nicht erwerben, daher habe die Stadt eine entsprechende neue Fläche gekauft. Das Wasserwirtschaftsamt habe bestätigt, dass damit der verlorene Retentionsraum ausreichend ausgeglichen werde und sei einverstanden gewesen. Ferner habe die Stadt 2014 den Seebach renaturiert und dabei ein zusätzliches Retentionsvolumen von circa 1100 Kubikmetern geschaffen. Zum Vorwurf der Höhenlinien könne die Stadt auf die Schnelle keine Stellung beziehen. Dazu müssten die Höhenlinien vermessen werden. Denn teilweise seien die Bauanträge im Freistellungsverfahren eingereicht worden. Der Antragsteller beziehungsweise Planfertiger bestätige dabei, dass die Planung im Einklang mit den Festsetzungen des Bebauungsplans stehe. Eine materielle Prüfung durch die Verwaltung finde in so einem Fall nicht statt. Die Haftung liege beim Antragsteller, sprich bei den einzelnen Bauherren.

© SZ vom 18.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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