Dokumentarische Geschichte:Ohne Absicht, gegen das Vergessen

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Normalerweise stellt er andere in den Mittelpunkt. Hier ein seltenes Selbstporträt von Hans Prockl, in voller Montur und mit technischer Ausstattung. (Foto: Hans Prockl)

Hans Prockl dokumentiert seit mehr als 50 Jahren, was Menschen im Isental zu sagen haben. Seine "Isental-Protokolle" vereinen völlig unterschiedliche Beiträge von ganz unterschiedlichen Menschen - ein wertvolles Kompendium einer vergangenen Lebenswelt.

Von Florian Tempel, Dorfen

Hans Prockl hat ein neues Buch herausgebracht. Unter dem Titel "Isental Protokolle" versammelt er 15 Gespräche und zwei Reden. Die Gespräche hat er zwischen 1973 und 2023 mit Menschen aus dem Isental geführt. Die beiden Reden hat er an einem einzigen Tag aufgenommen. Am Montag, 30. September 2019, als der damalige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) um 15 Uhr zur staatlichen Eröffnungsfeier auf den Autobahnparkplatz Fürholz kam. Wenige Stunden später sprach Heiner Müller-Ermann, langjähriger Sprecher der Aktionsgemeinschaft gegen eine Isentalautobahn, im Dorfener Kulturzentrum Jakobmayer.

Der 2021 mit dem Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnete Hans Prockl hat seit jeher alles entweder auf Tonband oder mit der Kamera festgehalten. Das ist sein grundlegender Ansatz als Dokumentarist: Er möchte das gesprochene Wort in dem Kontext, in dem es geäußert wurde, möglichst wirklichkeitsgetreu aufzeichnen. Woher sein Bedürfnis herrührt, das Tun und Reden der Menschen in seiner Nähe und Umgebung zu dokumentieren, weiß er selbst nicht so genau. Er stellt sich selbst die fragwürdige Frage: "Wie kommt man dazu, ohne Absicht, Dinge aufzunehmen, 50 Jahre lang?" Unnütz ist das aber alles nicht, ganz im Gegenteil "Es ist ein Kampf gegen das Vergessen, denn die Dinge ziehen vorbei."

Das Buch beginnt mit zwei Gesprächen, die der Autor als junger Mann 1973 und 1976 bei Spaziergängen mit seinem Onkel Schoos geführt hat. Er lebte als Kleinbauer in Wimpasing bei Lengdorf, ziemlich genau da, wo Jahrzehnte später eine mehrere hundert Meter lange Autobahnbrücke durchs Isental betoniert worden ist. In der Unterhaltung von Onkel und Neffe, die in Bairisch und in Hochdeutsch übertragen abgedruckt ist, geht es um Weltpolitik, um Krieg, Rüstung und Waffen.

Onkel Schoos, Kleinbauer aus Wimpasing bei Lengdorf. (Foto: Hans Prockl)

Onkel Schoos erzählt von einem Nachbarn, der im Ersten Weltkrieg mit einem Orden ausgezeichnet worden ist. "Weil er einen Graben geräumt hat, haben die Leute gesagt." Das klingt so harmlos und Onkel Schoos gefällt das gar nicht. Denn tatsächlich gab es die Auszeichnung dafür, dass er sechs Franzosen erschlagen hat. Im zweiten Gespräch, in dem es um Starfighter, Amerikaner, Russen und Chinesen geht, kommt Onkel Schoos irgendwann zurück auf seine eigene, kleine Welt: "Du kannst heutzutage nicht einmal einen Spatzen zusammenschießen im Gärtchen draußen, wenn der den Salat zusammenfrisst", sagt er, nur "ein Luftgewehr darfst du haben, so was wie ein Kinderluftgewehr."

Walter Schäfer, Musiker. (Foto: Hans Prockl)

Um ein ganz anderes Thema dreht sich das 1978 aufgezeichnete Gespräch mit dem Musiker Walter Schäfer. Es ist ein Rückblick auf die intensiven Jahre seiner Band Separations, die in Südostoberbayern und auch in Niederbayern ein klein bisschen weltberühmt war. Das liest sich ebenso spannend wie eine Doku über weltweit erfolgreiche Bands, die jeder kennt, die aber nie im Isental waren. "Und dann haben wir 'Lazy Sunday' gespielt, und 'Hey Jude' hamma gespielt", erzählt Walter Schäfer, "und die Leut ham richtig getobt."

Ganz außergewöhnlich sind die wörtlichen Aufzeichnungen zu Ursula Singldinger, genannte die "Fröscherin", die Prockl 1978 beim Wünschelruten-Gehen auf einem Hof in Wimpasing befragte. Was macht man, wenn man eine Wasserader gefunden hat? Man vergräbt an der Stelle eine Flasche mit einem Draht. Aber: "Wenn ich die nicht richtig vergrabe, dann nützt es nichts", erklärt die Fröscherin, "wichtig ist, wie der Draht liegt. Muss er hinein schaun oder heraus?" Ja, was nun? Sie gibt darauf keine Antwort.

Ursula Singldinger, die "Fröscherin", mit einer Wünschelrute. (Foto: Hans Prockl)

In den chronologisch aufgebauten Isental-Protokollen geht es weiter mit den Lengdorfer Fußballern, denen der Bauer die Wiese, auf der sie immer spielten, wieder wegnahm und die dann erst mal kein Spielfeld mehr hatten. Eine kleine Katastrophe! Es folgt ein Gespräch mit einem CB-Funker, der von einem großen Moment berichtet: Ein Freund wird Augenzeuge eines schweren Unfalls auf der Autobahn am Inntaldreieck, funkt sofort aus dem Auto raus einen Notruf, ein Feuerwehrmann in Rosenheim hört ihn, "und in kurzer Zeit waren über 20 Sankas vor Ort", berichtet der CB-Funker stolz, "das war das schnellste Ding, von dem ich weiß".

Beeindruckend sind auch die Gespräche mit Daniel Werft, dem letzten Schrankenwärter an der Bahnlinie München-Mühldorf, dem Feilenhauer Hans Rainer, dem Wanderschäfer Florian Feußner oder dem Bäcker Robert Angermaier. Der sagt zum Abschied aus der Backstube resigniert, was seinen Alltag zuletzt bestimmte: "Du hast zu tun, dass du die Vorschriften erfüllst. Die Ware und die Menge - das läuft irgendwie nebenbei."

Daniel Werft, der letzte Schrankenwärter an der Bahnlinie München-Mühldorf. (Foto: Hans Prockl)

Weit hinten im Buch kommen die bereits erwähnten Reden von Andreas Scheuer, bei der drei junge Männer zum letzten Mal ihren Protest gegen die A94 rausschreien, und der traurigen Ansprache von Heiner Müller-Ermann abends im Jakobmayer. Wie schön, dass Prockl den Wortlaut festgehalten hat. Scheuer sagt: "Aber wir freuen uns vor allem, dass so viele Bürgerinnen und Bürger do san, und wir wern uns die Leberkassemmeln a teiln, wenn's is." Müller-Ermann sagt zur Isentalautobahn: "Es ist ein klimapolitischer Wahnsinn, und das feiern die, und ihre größte Sorge ist, dass der Leberkäs ned langt."

Das Lesebuch "Isental-Protokolle" ist nicht einfach eine Sammlung interessanter, kurioser und anregender Texte. Hans Prockls neues Buch ist wesentlich mehr. Es ist ein wertvolles Kompendium einer bereits vergangenen Lebenswelt - denn es gibt kein Zurück auf dem Zeitstrahl.

Die Isental-Protokolle von Hans Prockl, sind im Selbstverlag erschienen und unter anderem in der Dorfener Buchhandlung Sauer und der Buchhandlung Leseglück in Erding erhältlich sowie beim Autor, E-Mail an hans.prockl@t-online.de .

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