Das ist schön:Glücksfall

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Nicola Mastroberardino und Florian Jahr in der Resi-Inszenierung "Engel in Amerika". (Foto: Sandra Then)

"Engel in Amerika" am Residenztheater zeigt, dass eine sieben Jahre alte Inszenierung aktueller sein kann als bei ihrer Premiere .

Von Egbert Tholl

2015 wurde Andreas Beck Intendant des Theaters Basel, und gleich zu Beginn seiner Tätigkeit kam ein Stück heraus, dessen Umsetzung größte Begeisterung hervorrief, Tony Kushners "Engel in Amerika". Es war Simon Stones erste Regiearbeit für Basel, weitere sollten folgen, und es blieb eine der besten Inszenierungen, die der gehypte Regisseur je ablieferte, vielleicht, weil er hier einen Text vor sich hatte, in dem die Dialoge funkeln, die Figuren plastisch sind, er nichts überschreiben musste, damit das Stück, das um 1990 herum geschrieben wurde, in die Zeit passte.

2019 übernahm Beck die Leitung des Residenztheaters in München; schon in seiner ersten Saison wollte er die "Engel" aus Basel mitbringen, doch es kam Corona, die sehr körperliche, personell aufwendige Aufführung war erst einmal nicht möglich. Nun kam sie vor einer Woche am Residenztheater heraus. Und das absolut Bemerkenswerte daran: Sie ist nicht gealtert, sie ist aktueller geworden. Obwohl sie in München minutiös nachgebaut wurde, mit derselben Besetzung wie einst, bis auf eine Ausnahme, dazu gleich. Sogar ein lustiges Detail wurde übernommen: Das Theater in Basel hat eine leicht schräge Rückwand. Die Bühne im Resi nun auch.

Zeitläufe. 2015 kannte man Donald Trump als Immobilien-Typen mit bizarrer Frisur, Präsident wurde er erst 2017. In den "Engeln" spielt Roland Koch dessen früheren Anwalt, er berserkert mit umwerfender Verve durch die Aufführung, spielt ein Riesenarschloch, für das keine Regeln gelten. 2022 wirkt seine Figur wie ein Kommentar auf die Trump-Ära, von der man 2015 noch nichts wusste.

Noch viel interessanter ist der Punkt, der mit der Umbesetzung einhergeht. 2015 spielte Simon Zagermann, der kein POC ist, Figuren, die von Kushner als POC angelegt sind. Damals war das kein großes Ding, aber das Theater hat sich verändert, Diskurse haben sich verändert. Kein Weißer spielt heute noch eine explizit schwarze Figur, es sei denn, man habe Lust auf einen Riesen-Shitstorm in Zeiten der Debatte über kulturelle Aneignung. Nun hat das Residenztheater, anderes als damals das Theater Basel, Benito Bause im Ensemble, der seine drei Figuren auch noch mit überlegener Eleganz und grandiosem Witz spielt.

Doch es geht weiter. 2015 waren die "Engel" ein brillantes Stück über Kapitalismus, über Lieben und Leben, über denen die schwarze Wolke Aids hing. 2022 denkt man während der fünfeinhalb Stunden der Aufführung seltsamerweise gar nicht so sehr an Corona, man denkt aber an aktuelle Diskurse über Ausgrenzung, Rollenzuschreibungen, über Lebenschancen, Raubbau an der Natur und natürlich weiterhin über Kapitalismus und dessen Folgen nach. Letzteres irgendwie bitterer als damals, desillusionierter. Die große Ballade ist durchlässig für unserer Gegenwart. Selten passiert es, dass man eine Sprechtheaterinszenierung nach sieben Jahren wiedersieht. Wenn dann dies noch mit einer erneuten Erhellung einhergeht, wenn die Aufführung Spiegel unserer Gegenwart wird, obwohl diese gar nicht explizit erzählt wird, dann ist das wirklich schön.

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