Was kann man noch erwarten von einem Dokumentartheaterabend über die Olympischen Spiele 1972 in München? In den vergangenen Wochen erfuhr man in Fernsehdokumentationen und langen Artikelreihen in den Zeitungen jedes, scheinbar wirklich jedes Detail über die Spiele, die so heiter begannen und im Terror endeten. Inzwischen hat sogar nach quälend langem Rumgeeiere die deutsche Staatsführung in Person von Frank-Walter Steinmeier um Vergebung gebeten, das umfassende Versagen der Polizei gegenüber den palästinensischen Terroristen zugegeben, das Geschachere um Entschädigung zu einem positiven (kann es das hier überhaupt geben?) Ende geführt. Und jetzt sammelt das alles das Theater zusammen, genauer gesagt Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura mit ihrem Stück "Die Spiele müssen weitergehen - München 1972" im Marstall des Münchner Residenztheaters. Kann das noch eine neue Erkenntnis bringen?
Theater kann mehr als Fakten vermitteln, dafür ist es da. Tatsächlich entlässt einen der Abend mit einem tiefen Gefühl von Wut und auch Scham, am Ende wirkt die emotionale Kraft des Theaters, die über Lektüre- und Fernseherlebnisse weit hinausgehen kann. Dann ist man entrüstet über Akten, die noch unter Verschluss sind, über den kompletten Mangel an Aufklärungsbereitschaft seitens der Behörden, über die Vertuschungsversuche der Politik. Nur ist es halt auch ein eineinhalbstündiger Theaterabend, der zwar auf die Kernaussage zusteuert, aber auf mäandernden und nicht durchgängig gewinnbringenden Wegen.
Kroesinger und Dura sind außerordentlich versierte Dokumentartheatermacher, sie können sich in Aktenberge vergraben, diese überhaupt erst einmal gegen Widerstände aufspüren, sie können diese Akten lesen wie andere Leute ein Bilderbuch. Vor einem Jahr etwa taten sie dies mit dem Material der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse an dem Ort, an dem diese stattfanden, dem Gerichtssaal 600. Aber damals ging es um die Nachstellung eines konkreten Vorgangs. Jetzt, beim Olympia-Stück, ist alles offen und die Fülle des Materials riesig. Zu riesig.
"Vorsicht vor eisgekühlten Getränken" - und vor unterkühlten Figuren
Auf der Bühne vier Schauspieler und eine Schauspielerin, die wie Lautsprecher aus den Archiven agieren, hübsch im Pastell des Corporate Design der Spiele gekleidet. Sie ackern sich rasant durch den Text und entwerfen erst einmal ein schillerndes Tableau des Traums, den die Spiele erfüllen sollten. München glänzt, alles ist heiter, die Erinnerung an die Nazi-Spiele von 1936 soll ausradiert, ein anderes Deutschlandbild erschaffen werden. Dieses Gemälde aus Text und Videoflut gelingt faszinierend gut und wird ergänzt durch Fundstücke wie etwa einem Zitat von Franz Josef Strauß: "Ein Volk, das solche wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen." Das Überraschendste fanden Kroesinger und Dura in alten DDR-Akten. Stasi-Chef Erich Mielke verfasste persönlich Anleitungen zum Bespitzeln der eigenen Mannschaft, versehen mit praktischen Anweisungen: Es sei von den Agenten auf Reinlichkeit zu achten, zwei Hauptmahlzeiten am Tag werden empfohlen, "Vorsicht vor eisgekühlten Getränken". Herrlich, dieses Manifest der DDR-Spießigkeit.
Aber sobald sich der Abend dem Terror nähert, müsste man die Geschwindigkeit herunterdrehen. Doch holprig und fahrig geht es durch das Geschehen, in der überbordenden Videofülle fehlen ikonische Bilder wie etwa das von Issa, dem Anführer der Terroristen, mit weißem Hut und Farbe im Gesicht. Stattdessen sieht man immer wieder grobkörnige Aufnahmen des olympischen Dorfs oder das Olympiagelände in psychedelischen Farben. Erst wenn das Morden und die bizarren Geschehnisse am Flugplatz Fürstenfeldbruck erzählt sind, wenn die Aufarbeitung und vor allem deren Mängel verhandelt werden, kehrt ein bisschen Ruhe ein. Aber eines lassen Kroesinger und Dura vermissen, auch wenn das Ende außerordentlich wirkmächtig ist: die Plastizität der Emotion. Einzig Hanna Scheibe wird es als Ankie Spitzer, Witwe des ermordeten Fechttrainers und Sprecherin der Opferfamilien, gestattet, eine echte Figur entstehen zu lassen. Am Ende bauen die fünf Akteure aus herumliegenden Elementen einen Olympiadackel zusammen. Doch nicht in Pastellregenbogenfarben, man sieht auf ihm das Dach des Geländes, hart fotografiert wirkt es nun wie ein Gitter, ein Gefängnis. Darüber stehen an der Wand die Namen der Toten.
Tags zuvor eröffnet das Residenztheater die Saison mit einem Meisterwerk. Simon Stone hat Tony Kushners "Engel in Amerika" 2015 in Basel inszeniert, es ist seine wohl beste Arbeit im Sprechtheater. Andreas Beck, damals in Basel Intendant, wollte die Produktion schon vor drei Jahren zu seinem Einstand nach München holen, dann kam Corona, jetzt hat es geklappt. Kein bisschen Patina hat der Abend angesetzt, die Dialoge funkeln nach wie vor, alle Menschen auf der Bühne brillieren um den berserkernden Roland Koch, er spielt Roy Cohn, Trumps Anwalt, einen schwulen Schwulenhasser. Doch: Dieses fünfeinhalbstündige Epos über Liebe, das Leben, Kapitalismus und Tod (durch Aids) wird nun, sieben Jahre später, noch stärker zu einem Diskussionstableau über Ausgrenzung, kulturelle Aneignung und Rollenbilder. Die Welt hat sich verändert, aber diese Aufführung hat dazu immer noch etwas zu sagen.