Kolumne Zwischen Welten:Bühne der Erkenntnis

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Emiliia Dieniezhna (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))

Ein Theaterstück an den Münchner Kammerspielen führt bei unserer Kolumnistin zu der Gewissheit, wie viel Unheil Ignoranz anrichten kann.

Von Emiliia Dieniezhna

Es dämmert einem gleich zu Beginn der Aufführung von "Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw": Es geht um die Ukraine, auch wenn die Handlung in Deutschland spielt. Auf der Bühne der Münchner Kammerspiele ist ein Wohnzimmer der Nachkriegsjahre zu sehen, rund um die Bühne herum liegt Steinkohle - sie symbolisiert die einstige wirtschaftliche Kraft der Ost-Ukraine. Kohlebergbau war dort jahrzehntelang der vorherrschende Industriezweig, besonders in Charkiw.

Längst steht das Schwarz der Steinkohle nicht nur für einen Wirtschaftszweig, sondern leider auch für verbrannte Erde. Weil Charkiw nur etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, wird die Stadt regelmäßig bombardiert. Das Dunkel der zerstörten und ausgebrannten Häuser, die Finsternis der Nächte ohne Strom, ist auf der Bühne gegenwärtig.

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Diese Allegorie zieht sich durch die ganze Aufführung. Am Beispiel von zwei deutschen Familien behandelt die Inszenierung historische Traumata Europas und stellt die Frage, wie man künftig mit diesen Traumata in einem gemeinsamen europäischen Raum umgehen muss.

Die Familien heißen beide Schmidt. In beider Leben findet sich eine Verbindung in die Ukraine, doch zu jeweils anderen Zeiten. Die eine Familie Schmidt wohnt im Mannheim der Nachkriegsjahre, die andere Familie Schmidt in den 1990er-Jahren. Der Mann der ersten Familie ist nach einem "zivilen Einsatz" als Ingenieur während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine nach Hause gekommen. Ein Kind, das er während seines Einsatzes gezeugt hat, verheimlicht er seiner Frau. Auch zu anderen Erlebnissen während des Krieges bleibt er sprachlos. Ein Schweigen, das nicht glücklich enden kann.

Parallel erlebt die zweite Familie ihr Unglück mit einer teuer bezahlten Auslandsadoption, das Ehepaar kann keine eigenen Kinder bekommen. Die Schmidts der Gegenwart bauen ihr Familienglück auf dem Vorsatz auf, dem Sohn nicht zu sagen, dass er adoptiert wurde. Doch der Junge ist niedergeschlagen, er spürt ein "Loch in seinem Herzen", etwas fehlt. Die Situation wird so kompliziert, dass Frau Schmidt die ukrainische Mutter finden will.

Beide Familiengeschichten zeigen, wie die Traumata und Geheimnisse der Vergangenheit Gegenwart und Zukunft beeinflussen. Wenn die Tragödie der Vergangenheit nicht verarbeitet wird, kann es keine Zukunft geben. Diese Idee gewinnt gerade an Aktualität - jetzt, wo viele Menschen im Westen zunehmend kriegsmüde werden und sich nur zu gerne der Illusion hingeben würden, dass man das Leben hier von den Geschehnissen dort trennen kann.

Es geht auch um blinde Flecken in der Geschichte Europas

Für mich hat das Stück der Regisseurin und Autorin Anne Habermehl auch eine Metaebene, die sich der Frage nach den Verbrechen Nazideutschlands in der Ukraine widmet - Taten, die nur einen kleinen Platz in der Erinnerungskultur einnehmen. Das Thema ist nicht einfach, aber es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass es von Habermehl gerade jetzt aufgegriffen wird, während mein Land wieder einen Angriffskrieg erlebt und mein Volk unter furchtbaren Verbrechen an der Menschlichkeit leidet.

Die zwei Geschichten der Familien Schmidt fragen nach den blinden Flecken in der Geschichte Europas. Manchmal werden die Erzählungen gelöscht, damit ein Leben in Frieden und Freiheit gedeihen kann. Langfristig hilft das nicht. In einer Welt, die längst enger zusammengerückt ist, nehmen die Ereignisse in einem Land Einfluss auf das Leben in anderen Ländern. Das gilt für Europa und für Deutschland. Ignoranz ist kein guter Ratgeber.

Emiliia Dieniezhna, 35, flüchtete mit ihrer damals vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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