SZ-Kolumne: Auf Station, Folge 21:Viel ist schnell zu viel

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Julia Rettenberger über mangelernährte Patienten

Protokoll Johanna Feckl

Als im Zweiten Weltkrieg die Konzentrationslager befreit wurden, hat man ein Phänomen zum ersten Mal groß dokumentiert, das heute unter dem "Refeeding Syndrom" bekannt ist: Die Alliierten haben den oft schon bis auf die Knochen abgemagerten KZ-Insassen Essen gegeben. Viel Essen. Für einige der Ex-Häftlinge endete diese wohlgemeinte Tat katastrophal: Aufgrund ihrer jahrelangen Mangelernährung waren ihre Körper nicht mehr in der Lage, solche Mengen an Nahrung zu verstoffwechseln. Stattdessen schoss ihr Blutzuckerspiegel in die Höhe, der CO₂-Gehalt im Blut stieg an, der Organismus übersäuerte und dann war das Koma auch nicht mehr weit - viele KZ-Überlebende sind in Folge daran gestorben.

Damals wusste man zu wenig über den Umgang mit mangelernährten Menschen, heute ist das zum Glück anders. Denn immer wieder haben wir auf der Intensiv Fälle, bei denen wir äußerst vorsichtig sein müssen, damit der Körper mit der Nahrung zurechtkommt. Es sind nicht nur anorektische, also von Magersucht betroffene Patientinnen, sondern auch Tumorpatienten. Durch Chemotherapie und Medikamente kämpfen zahlreiche von ihnen mit einer solch starken Übelkeit, dass sie vieles von der zugeführten Nahrung wieder erbrechen und generell keinen Appetit mehr haben. Auch Patienten während und nach einer invasiven Beatmung sind gefährdet: Währenddessen können sie wegen des Tubus und der Narkosemittel nicht selbst essen, danach ist oft der Schluckreflex so geschwächt, dass normales Essen nicht funktioniert. In all diesen Fällen sorgt eine Magensonde für die Ernährung der Patienten.

Je nachdem, wo die Sonde im Magen oder Darm platziert ist, gibt es verschiedene Arten von Sondenkost - etwa eine, bei der die Nahrung bereits vorverdaut ist. Wenn die Ernährung über den Magen-Darm-Trakt zum Beispiel nach großen Darm-OPs nicht möglich ist, dann können Nährstoffe auch über Venen zugeführt werden. Ist der Patient hingegen schon fitter, wird die Magensonde oft mittels eines Schlauchs, der in die Nase führt, angebracht. Dafür ist es extrem wichtig, eine Lagekontrolle durchzuführen, denn sitzt der Schlauch zu hoch, könnte alles in der Lunge landen. Für die Kontrolle spritze ich ein wenig Luft in den Schlauch und horche mit einem Stethoskop auf Magenhöhe. Höre ich ein Blubbern, dann ist alles so, wie es sein soll. Übrigens ist immer eine Zustimmung des Patienten notwendig, damit wir ihn über eine Sonde ernähren dürfen.

Im Idealfall können wir die Nahrungszufuhr über mehrere Tage hinweg stetig steigern, sodass bald der tägliche Kalorienbedarf erreicht ist. Und dann kommt der Versuch mit oraler Kost. Da bekommt der Patient freilich nicht gleich einen Schweinsbraten vor die Nase gesetzt - wir beginnen langsam und schauen, was geht. Tierische Fette gibt es erst einmal nicht, dafür aber viele Ballaststoffe. Stückchenweise nähern wir uns einer Normalkost an - und wenn wir dort angekommen sind, dann haben wir unser Ziel erreicht.

Julia Rettenberger ist Intensivfachpflegerin. In dieser Kolumne erzählt die 27-Jährige jede Woche von ihrer Arbeit an der Kreisklinik in Ebersberg. Die gesammelten Texte finden Sie unter sueddeutsche.de/thema/Auf_Station .

© SZ vom 04.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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