SZ-Adventskalender:Raus aus dem Niemandsland

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Deutsch zu lernen bedeutet für Vara L., den Weg zu einem neuen Leben einzuschlagen. (Foto: Stephan Rumpf)

Eine syrische Familie entkommt dem Bürgerkrieg. Jetzt muss sie mit vier Kindern über die Runden kommen - und es schaffen, sich ein neues Leben aufzubauen.

Von Alexandra Leuthner, Landkreis Ebersberg

"Sogar die Luft ist hier anders." Vara L., am anderen Ende der Telefonleitung atmet schnell, es ist schon dunkel und sie ist unterwegs, ihren Sohn von der Schule abzuholen. Sie will den Zehnjährigen nicht allein nach Hause gehen lassen. Wenn ihr Mann ihn nicht abholen kann, weil er arbeiten muss, zieht sie los zum Hort, wo er einen Platz bis abends um fünf bekommen hat. Enis (alle Namen geändert) wartet schon auf seine Mutter.

Ihren Kindern ein geschütztes Zuhause zu geben, das sei ihr das Wichtigste, erklärt die 33-Jährige. Nachdem sie den Zerfall all dessen erlebt haben, was ihr Leben ausgemacht hat, bevor der Bürgerkrieg in Syrien begann. "Ich verstehe das nicht mehr, weiß nicht mehr, wer dort was will", sagt sie, und es ist, als wolle sie alles, was ihr Heimatland betrifft, weit von sich weg halten, indem sie nicht darüber redet. Ein bisschen erzählt sie dann doch, von ihrem Dorf, in dem meistens die Männer gearbeitet haben, während die Frauen zu Hause blieben und sich um die Kinder kümmerten. Sie aber nicht. "Ich habe schon in Syrien als Lehrerin gearbeitet." Vara L. hat studiert, Englisch gelernt, vier Jahre lang unterrichtet, Arabisch und Englisch für die ersten vier Klassen. "Mein Vater hat mich immer unterstützt."

"Wir wollten nur, dass die Kinder glücklich sind", sagt Vara L.

Und dann rückten die Kämpfe näher, die Schulen wurden geschlossen. Eineinhalb Jahre lang warteten sie im Dorf ihres Mannes auf den Krieg, bis die Familie sich entschloss zu fliehen. Zuerst in die Türkei. Durchs syrisch-türkische Niemandsland. "Sie haben uns zurückgeschickt. Nach einer Woche haben wir es wieder versucht." Mit damals drei kleinen Kindern, die Jüngste, jetzt ist sie fünf, war noch nicht geboren, "wir wollten nur, dass die Kinder glücklich sind", sagt Vara L. Ohne etwas zu essen und zu trinken harrte die Familie vor der Grenze aus - und diesmal hatte sie mehr Glück. "Ein Kommandant hat meine kleine Tochter gesehen, sie war so krank. Dann hat er uns hinein gelassen."

Drei Jahre blieben Vara L. und ihre Familie in der Türkei, mit Arabisch und Kurdisch, der Sprache ihrer Mutter, konnten sie sich verständigen, ihr Mann verdiente den Lebensunterhalt in einer Fabrik. Sie selbst konnte nicht arbeiten, "die Kinder waren krank". Alle drei Mädchen haben Probleme mit den Augen, die Älteste, inzwischen elf, kann ohne Brille nicht lesen, die beiden Kleineren haben mehrere Augenoperationen hinter sich, die Jüngste bekommt noch dazu schlecht Luft durch die Nase.

Die Hoffnungen des Ehepaares ruhten auf Deutschland. Ende 2018 durften sie ausreisen, wurden für zwei Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft im Landkreis untergebracht. Sechs Personen, 33 Quadratmeter. "Mein Vorteil war, dass ich Englisch konnte", erzählt Vara L., so konnte sie sich wenigstens verständigen, mit den Behörden reden, Milch kaufen für ihre Kinder. Und für Mitflüchtlinge dolmetschen, mit dem Landratsamt, dem Jobcenter, der Caritas reden. Leicht war es dennoch nicht, mit den Kindern in der Unterkunft, vor allem nicht, als der erste Corona-Lockdown kam, ihre Töchter und ihr Sohn keine Spielgefährten mehr treffen konnten. "Da war kein Platz für die Kinder in der Unterkunft", sagt Vara L., doch sie will nicht jammern. "Deutschland hat uns viel geholfen. Wir wollen hier etwas aufbauen." Seit August sind sie nun raus aus der Unterkunft, haben ein Appartement gefunden, Vara L.'s Mann hat einen Minijob in einem Geschäft in München, er tut sich nicht so leicht mit der Sprache wie sie.

"Mir gefällt die deutsche Sprache gut. Ich will das können."

Die Syrerin fährt jeden Tag zum Deutschkurs in die Volkshochschule, hat die ersten Tests bereits bestanden, Anfang des neuen Jahres steht die B1-Prüfung an, auch die wird sie sicher schaffen. Jeden Abend, wenn die Kinder im Bett sind, setzt sie sich hin und lernt; Vokabeln und Grammatik, "mir gefällt die deutsche Sprache gut, ich will das können", erklärt sie. Die B2-Prüfung ist die nächste Stufe, die sie erklimmen will, dann eine Ausbildung machen, zur Kindergärtnerin, ein Praktikum hat sie schon hinter sich. "Ich muss immer weitergehen", sagt sie, "ich will, dass meine Kinder Sicherheit und Liebe haben."

Doch bis es soweit ist, müssen die syrischen Eheleute sehen, wie sie über die Runden kommen. Die staatliche Unterstützung ist knapp, bis sie beide arbeiten können, haben sie kaum Geld. Noch belastender aber ist, dass Vara L. ständig mit einem der Mädchen zum Arzt muss, oder zur Kinderklinik in München, sie muss sich um Logopädie kümmern für die Kleinste, auch ihre Brille ist kaputt gegangen, und sie benötigt ein Hörgerät. Die Älteste, die jetzt die fünfte Klasse besucht, bräuchte ein Laptop für die Schule. Als die Kinder zuletzt in Quarantäne mussten - nach einem Gruppenausflug war ein Kind positiv auf Corona getestet worden - habe sie gar nichts machen können, erzählt die Mutter, sie durfte ja nicht zur Schule gehen, konnte dem Stoff nicht folgen. Aber, und das hört man aus jedem Satz heraus, den Vara L. formuliert - in so gutem Deutsch, dass es kein Problem ist, ihr zu folgen: Alles ist besser als in Syrien zu sein. Wo ihre Eltern geblieben sind, die sie seit sieben Jahren nicht gesehen hat, und ihre Geschwister. Wo sie ihren jüngsten Bruder verloren hat. Er war 17. "Es ist mein Heimatland. Aber ich mag dieses Land nicht."

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