"Ich sitze vorne, aber das ist ein Zufall." Edoardo Pirozzi stellt sich nicht gerne in den Vordergrund. Wobei ihm seine Aufgabe dabei immer wieder in die Quere kommt: Er ist der neue Leiter der Musikkapelle Gelting, und als solcher ist sein Platz nun mal vor und nicht mitten im Orchester. Es sei denn, er nimmt sein Horn an den Mund und spielt in einem der Ensembles, in denen er Mitglied ist, oder dort, wo er immer wieder als Aushilfe einspringt, dem Opernorchester "Europa Musica" in Rom etwa, den Berliner Symphonikern, dem Bundespolizei Orchester München oder der Niederbayerischen Philharmonie des Theaters Passau. Dann kann er mit seinem Instrument halbwegs unauffällig in den Reihen der Musiker verschwinden.
Der junge Dirigent weiß ganz genau, wo er hinwill mit seinem Orchester
Jetzt aber sitzt der 38-Jährige, der aus Civitavecchia bei Rom stammt, auf einer Art Regiestuhl, getragen von einem Podest im Probenraum der Geltinger Musikkapelle unter dem Plieninger Bürgerhaus und blickt ein wenig streng zu seiner Truppe hinüber. Dienstagabend, die Orchesterprobe ist in vollem Gange. China-Marsch heißt die Aufgabe, geschrieben hat das Stück für Blasorchester der zeitgenössische österreichische Komponist Gerhard Hafner. "Ich höre zu wenig d", sagt Pirozzi, "g und d, die Quinte, sind die Harmonie, sie sind die wichtigsten Töne, das charakterisiert die chinesische Musik", erklärt der Kapellmeister und wiederholt: "Ich höre zu wenig d." Also alles noch mal von vorne. Trompeten, Posaunen, Querflöten werden wieder angesetzt, Hörner gehoben, Finger auf Klarinettenklappen sortiert. Ein paar Takte geht es weiter, dann greift der Kapellmeister wieder ein, erklärt mit unverkennbar italienischem Akzent warum ihm die gespielte Stelle missfällt, und wie er das sagt, klingt es wie "stelle", was im Italienischen "Sterne" heißt. Doch so klangvoll seine Erklärungen auch sind, der junge Dirigent weiß ganz genau, wo er hinwill mit seinem Orchester.
Kultur für die Provinz will er schaffen mit seinen Laienmusikern. Mit der Leitung des Geltinger Ensembles hat er immerhin die Verantwortung übernommen, eine lange Tradition weiterzuführen, und der will er gerecht werden. Auftritte in der Gemeinde sind ihm ganz wichtig, Benefizkonzerte, städtische Feiern, Gottesdienste, "alles, was Menschen verbindet." Vor über 30 Jahren ist die Musikkapelle von Vater und Sohn Günther Schuler gegründet, bis vor zwei Jahren auch noch vom Junior geleitet worden, bevor der sich aus der Leitungsverantwortung zurückgezogen hat. Schuler kann sich jetzt wieder seinem Baritonhorn widmen und muss nur noch einspringen, wenn Pirozzi gerade mal keine Zeit hat - wie vorübergehend an diesem Abend, da er zum Gespräch in einen Nebenraum bittet. Hier sind die Töne des Orchesters nur noch gedämpft zu hören. "Ich bin aber froh, dass Günther Schuler dabei ist, ich lerne immer noch von ihm", erklärt Pirozzi.
Es war recht schnell klar, dass man sich für den jungen Italiener entscheiden würde
Ein professionelles Auswahlverfahren hat der zweifache Familienvater durchlaufen, um die Stelle als Kapellmeister in Pliening zu bekommen. "Mit Lebenslauf und Zeugnissen" habe er sich beworben, berichtet der 38-Jährige, der mit seiner Frau, die wie er an der Musikschule unterrichtet, in Ebersberg lebt. Ein Probedirigat habe dann wegen des ersten Lockdowns abgesagt und später wiederholt werden müssen, erzählt die Vereinsvorsitzende Anke Hierl, die als Klarinettistin ganz vorne in der Kapelle sitzt. Dann aber war es recht schnell klar, dass man sich für den Italiener entscheiden würde. "Irgendwie hat er zu uns gepasst", erklärt Georg Rittler, früherer Plieninger Bürgermeister, der sich als Schriftführer um die Belange der Kapelle kümmert.
Über die Frage, was denn ein Italiener mit bayerischer Blasmusik zu tun habe, muss Pirozzi fast lachen. Das werde er immer gefragt, sagt der Kapellmeister, der nach seinem Horn-Diplom am römischen Konservatorium Santa Cecilia, einem Bachelor-Studium an der Hochschule für Musik in Detmold und einem Master-Studium an der Hochschule für Musik in Nürnberg seit 2015 den Postgraduate-Universitätslehrgang am Mozarteum in Salzburg besucht. Die traditionell böhmisch-bayerische Volksmusik sei in seinen Augen eine Musikgattung wie alle anderen, für ihn und seine Mitspieler sei es dabei "ein gegenseitiges Befruchten". Allein traditionelle Blasmusik zu spielen, das sei ihm aber dann doch zu wenig. Die große Musik bleibe für ihn immer noch Bach, Mozart und Beethoven. "Die tägliche Begegnung mit einem Quartett von Haydn, einer Symphonie von Brahms oder einer Oper von Wagner ist für mich unverzichtbar, nicht nur als Orchestermusiker, sondern auch als Kapellmeister."
Im Mai spielen die Geltinger in München zur Feier von Richard Wagners 210. Geburtstag
Dabei sind es die Originalwerke für Blasorchester, die es ihm angetan haben - und davon gebe es genug, neben Beethoven etwa von Rossini oder Shostakovich. So eine Möglichkeit, wie jene, am 21. Mai im Künstlerhaus am Lenbachplatz am Konzert zum 210. Geburtstag von Richard Wagner teilzunehmen, ist also natürlich für den Dirigenten und die Geltinger Musikkapelle etwas ganz besonderes. Vor großen Auftritten scheut man sich dort eh nicht: Mehrmals sind die Geltinger schon beim traditionellen Trachtenumzug zum Wiesnauftakt mitgelaufen.
Und doch gehe es bei der Leitung einer Blaskapelle um viel mehr als um die reine Musik. Viel wichtiger als die Perfektion in der musikalischen Aufführung, als die ausgefeilte Interpretation komplizierter Orchestermusik sei ihm die soziale Bedeutung, die seine Kapelle hat, sagt Pirozzi, der selbst als Junge mit seinem Horn in einer Kapelle angefangen, dann aber ziemlich schnell über das Horn-Studium den Sprung zum Symphonieorchester getan hat. "Ein Orchester ist wie eine Mannschaft, die auf dasselbe Ziel hinarbeitet." Pirozzi unterrichtet an der Ebersberger Musikschule und leitet dort seit 2016 das Jugendblasorchester, und auch die Orchesterproben sieht er vielmehr als Unterricht denn als Probe. Das wichtigste aber sei das Gemeinschaftserlebnis, "zehn Prozent sind Musik, 90 Prozent ist die Mannschaftsleistung." Gerade jungen Menschen biete das Spielen in einem Orchester "eine konkrete Möglichkeit, in ein gesundes soziales Umfeld hineinzuwachsen."
Die Blaskapelle ist altersmäßig gut aufgestellt, etwa ein Drittel des Orchesters sind Jugendliche
Tatsächlich können sich die Verantwortlichen in Pliening über eine relativ stabile Jugendbasis freuen, etwa 20 von derzeit 60 Aktiven seien Jugendliche, berichtet Rittler. Seit 2017 habe man ja in Christine Westermair eine eigene Leiterin der Jugendkapelle, aus der die Hauptkapelle immer wieder Nachwuchsmusiker requirieren könne. Seit 2005 habe es überdies eine Kooperation mit der Musikschule Poing gegeben, die aber jetzt wohl auslaufe aufgrund einer verstärkten Zusammenarbeit Poings mit der Musikschule Vaterstetten. Immer wieder versuche man auch, Kinder der Musikanten in die Kapelle zu holen, oder vorübergehend ausgeschiedene Mitglieder zu reaktivieren. Bei Rittlers Tochter Steffi hat das schon mal funktioniert: Nach ihrer Kinderpause spielt sie jetzt wieder Klarinette im Ensemble.
Und ganz sicher wird Kapellmeister Pirozzi das Seine dazu tun, die lange Musiktradition in Gelting aufrecht zu erhalten. Wenn man ihm zusieht, wie er konzentriert den Taktstock schwingt, wenn er den Rhythmus vorgibt, mit kurzem "babababa", oder wenn er mit "tatata" den Musikern das Staccato vorsingt, dann möchte man am liebsten mitspielen. Auch dann, wenn er schon mal eine Anmerkung mit einem italienischen Ausdruck würzt - wenn er für alle wichtig ist, dann übersetzt er ihn schon.