Premiere in Ebersberg:Körperbeherrscher in motion

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Anmut am Vertikaltuch - eine der Paradedisziplinen der Grafinger "Movimentos". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Grafinger Artisten von "Movimento" wissen ihr Publikum trotz langer Pandemie-Pausen zu begeistern. Die neue Show "Masquerade" bietet spektakuläre Artistik am Boden und in der Luft - sowie viele herzerwärmende Momente.

Von Anja Blum, Ebersberg

Es soll ja Menschen geben, die bekommen schon allein beim Gedanken an einen Purzelbaum Schweißausbrüche und Schwindelgefühle. Das aber gerät nur allzu leicht in Vergessenheit, wenn die Bewegungskünstler und vor allem -künstlerinnen von Movimento zeigen, was sie so alles draufhaben. Wenn sie auf Händen laufen, Flickflacks schlagen oder in den Spagat sinken, als wäre das alles Nichts, oder zumindest das Einfachste der Welt. Ist es aber nicht. Wie viele Stunden voller Schweiß und Fleiß mögen wohl hinter dem neuen Programm der Grafinger Truppe stecken? Die Premiere, die am Donnerstagabend im Ebersberger Alten Speicher über die Bühne gegangen ist, lässt vermuten: unzählige.

Wie viel Schweiß muss wohl die Stange runter fließen für solch ein faszinierendes Bild? (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Doch es hat sich gelohnt. Trotz langer Pandemie-Pausen wissen die jungen Akrobaten zu überzeugen, nein, zu begeistern. Noch drei Aufführungen folgen auf die Premiere, und sie alle sind schon lange ausverkauft. Zwei Jahre mussten die Zuschauer ihre Tickets in der Schublade verwahren - nun werden sie fürs Warten belohnt. Mit sportlichen Höchstleistungen am Boden wie in der Luft, mit Leidenschaft, Energie, Poesie und Fantasie. Und der Applaus schallt reichlich durch den Saal: An diesem Abend sind nicht die Artisten "in motion", sondern auch ihre Fans.

Chef Stefan Eberherr hat "Movimento" einst als Wahlkursangebot am Gymnasium gegründet, heute ist die Truppe eine Abteilung des TSV Grafing. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Masquerade" heißt die neue Show von Movimento - wer nun allerdings denkt, der Titel wäre Corona geschuldet, der irrt. Das Thema "Maskierung" hatten die Artisten schon vor der Pandemie als Leitgedanken auserkoren. Doch wenn man denn etwas an der aktuellen Inszenierung aussetzen wollte, wäre es wohl dies: Das Motto wird zwar in der ein oder anderen Darbietung sowie im Bühnenbild aufgegriffen, als belastbarer roter Faden aber taugt es nicht. Dafür fehlt einfach zu vielen Nummern der Bezug. Das ist schade - aber mehr als verständlich, denn die Bewegungskünstler werden, nach der langen Abstinenz, mit all den Basics eines solchen fulminanten Abends vollauf beschäftigt gewesen sein. "Ich hätte nicht geglaubt, dass wir das so hinbekommen", sagt Chef Stefan Eberherr nach vollbrachter Tat zu seinen Movimentos sichtlich gerührt. "Ihr seid der Wahnsinn!"

Wie wird es werden, mit der Kultur im Landkreis im Herbst und Winter? Wird man im Alten Speicher so wie hier bei "Masquerade" von Movimento so zahlreich zusammenkommen können? (Foto: Peter Hinz-Rosin)

In diesem Schlussmoment ist die Bühne des Alten Speichers rappelvoll - doch auch zwischendrin beschleicht einen das Gefühl, dass die Movimentos eigentlich noch mehr Platz bräuchten. Die Artistikgruppe, die nunmehr seit zwölf Jahren besteht, zählt rund 160 Mitglieder - und dementsprechend groß aufgestellt sind ihre imposanten Gruppenchoreografien. Sowohl beim Tanz als auch bei der Akrobatik tummeln sich zahlreiche Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, wie von einem unsichtbaren Puppenspieler synchron bewegt. Die Zuschauer können nur staunen, auf wie viele verschiedene Arten man sich gegenseitig hochheben kann. Sogar die Kleinsten begeistern mit großer Körperbeherrschung, sie sind schon bei vierstöckigen Pyramiden dabei.

Die "Tanz Allstars" sind inkognito - ein Metapher für die Gleichschaltung hinter Masken. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Das vorherrschende Bühnenoutfit übrigens ist schlicht: schwarze, kurze Leggins, schwarzes Top, darüber ein weißes Hemd. Oft tragen die Tänzerinnen und Tänzer dazu eine Maske - deren Bedeutung als Uniformierung, als Mittel zur Gleichschaltung so verdeutlicht wird. Schon in der dritten Darbietung aber findet ein Befreiungsschlag statt: Zu "Survivor" von 2WEI nehmen die "Tanz Allstars" ihre Masken ab, lösen die Pferdeschwänze und öffnen ihre Hemden.

Auch den Nachwuchs zieht es schon in die Höhe. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Besonders herzerwärmend: die Unbeschwertheit der "Akro Juniors & Kids", die wie Nachwuchselfen ihre ersten Hebefiguren und Pyramiden zeigen. Eine klassische Choreografie, die großes Gemeinschaftsgefühl transportiert, präsentieren die "Akro Talents" zu dem dramatischen Song "We are strong". Mehr akustisches Wiedererkennungspotenzial allerdings hatte das kraftvolle "Final Masquerade" von Linkin Park - mit diesem höchst passenden Titel verabschiedeten sich schließlich alle Artisten tanzend von ihrem Publikum.

Am Trapez und vielen anderen Geräten schwingen sich die Artistinnen und Artisten durch die Luft. Manche wirken dabei wie Zwillinge. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bevor es soweit ist, darf sich das Publikum aber freilich noch zahlreicher Darbietungen kleinerer Gruppen erfreuen. Vor allem die Luftartistik nimmt viel Raum ein, die exzellente Bühnentechnik hat dafür sogar ein zusätzliches Podest inmitten des Parketts gebaut. An Netzen, Tüchern, Bändern, Trapez, Stange und Ring schwingen sie die Artistinnen und Artisten durch die Luft und vollführen unfassbare Verrenkungen. Das vielleicht Schönste aber ist, dass diese jungen Menschen dabei keinerlei Berührungsängste - im wahrsten Sinne des Wortes - kennen: Alle Bewegungen sind getragen von absoluter Harmonie und Vertrauen.

Wie passend: "Vertraut" heißt diese Nummer am Aerial Hoop. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Auch in die eigenen Fähigkeiten. Immer höher schrauben sich die Mädchen in Netz oder Tuch, bis unters Dach des Saals - nur um dann plötzlich loszulassen und in einer wilden Drehung nach unten zu sausen. Da kriegen die Zuschauer schon mal einen Schreck, oder sogar einen deutlichen Luftzug ab. Die Publikumslieblinge Luisa Grimm und Tabea Henle an den Strapaten zum Beispiel laufen Hand in Hand durch die Luft und verknoten sich dann dermaßen, dass man schier nicht mehr weiß, wo der eine Körper anfängt, und der andere aufhört. Großes Kino ist aber auch das Solo von Johannes Böhringer am Chinesischen Mast, dem "Chinese Pole", denn die Schwerkraft scheint für diesen Artisten nicht zu existieren. Dabei vollführt er seinen zärtlichen Tanz mit der Stange auch noch in Hemd, Hose und Turnschuhe - Alltagsklamotten, die die Exzellenz der Darbietung total absurd erscheinen lassen.

Für Johannes Böhringer scheint die Schwerkraft nicht zu existieren. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Neben den klassischen Disziplinen können die Movimentos aber auch zwei neue präsentieren. Da sind zum einen die "Handstand Talents", für die "Kopfüber" offenbar Normalzustand ist. Unglaublich, was diese Körperbeherrscher alles mit den Füßen nach oben zustande bringen. Ebenfalls bei den Grafingern noch nie gesehen hat man einen "Bungee-Tanz": Zwei junge Frauen, die mit Hüftgurten an jeweils einem starken Gummiband befestigt sind, federn hier über die Bühne. Das ist abgefahren und irgendwie surreal - passt aber genau deswegen recht gut zum Motto des Abends: der Mensch als Gefangener der Umstände. Der versucht, sich zu entziehen, aber immer wieder von einer unsichtbaren Kraft an seinen ihm zugedachten Platz gezwungen wird. Das hat künstlerisches Potenzial, bitte mehr davon!

Geheime Kräfte scheinen zu wirken beim herrlich absurden "Bungee-Tanz". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die zwei Disziplinen, in denen die integrative DNA von Movimento besonders deutlich wird, sind aber die Jonglage und das Einradfahren. Hier nämlich treffen alle aufeinander, die Neulinge und die Profis, Jung und Alt, Klein und Groß, Dicker und Dünner. Und alle zusammen rocken die Show. Die einen lassen Bälle und Keulen durch die Luft wirbeln, die anderen balancieren mit einem Rad auf engstem Raum.

Bei dieser rasanten Jonglage fällt es nicht leicht, den Überblick zu haben. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Und wenn mal etwas schief geht, ist das alles andere als dramatisch, im Gegenteil. Dann steht da gleich ein Kollege und reicht die Bälle oder hilft beim Wiederaufsteigen. "Jeder kann dabei sein, jeder kann hier frei sein", heißt es so schön im Movimento-Song zum Schluss - und genau das hat sich bewahrheitet an diesem wundervollen Abend mit lauter wundervollen Artisten.

Stark: die Hebefiguren der "Akro Talents". (Foto: Peter Hinz-Rosin)
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