"Eigentlich ganz kuschelig in so einem Netz", sagt der Landtagsabgeordnete Thomas Huber (CSU), als er es sich neben seinen Kolleginnen und Kollegen bequem macht. Jenes Netz, das an diesem Montagvormittag das gesammelte politische und physische Gewicht der vier Landtagsabgeordneten und des einen Kandidaten tragen muss, die der Einladung der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in den Vaterstettener Kletterwald gefolgt sind, hat man dort zwischen zwei Fichten, als Teil eines Kletterparcours aufgespannt. Erkennbare Materialermüdungserscheinungen zeigt es eigentlich nicht. Überstrapaziert wird es an diesem Vormittag höchstens als Metapher für die sozialen Sicherungssysteme. "Absolut dicht" ist das soziale Netz in Bayern nach Ansicht Hubers. "Das Netzt reißt", befürchtet hingegen Doris Rauscher (SPD). "Bei den Freien Wählern reißt's am stärksten", weist die FDP in Person ihrer sozialpolitischen Sprecherin im Landtag Julika Sandt sogleich die Schuld von sich. Ganz sicher ist sich plötzlich auch Thomas Huber nicht mehr: "Jetzt marschieren wir weiter, bevor es wirklich reißt."
"FDP und Sozialpolitik, passt das überhaupt zusammen?" Entsprechenden Nachfragen greift Julika Sandt lieber selbst vor. Mit dieser rhetorischen Frage leitet sie ihr Statement ein, für das die fünf Politiker zu Beginn der Veranstaltung in die kleine, um es mit Huber zu sagen, "kuschelige" Hütte am Rande des Kletterwaldes gebeten werden. Ja, das passe zusammen, sagt Sandt, nur sähe die FDP Sozialpolitik im Unterschied zu anderen Parteien nicht als Bett - oder eben Netz -, das einen auffängt. Sie wolle lieber ein Trampolin, das Menschen nach einem Absturz wieder zum Sprung nach oben befähige. Vor so einem Sturz seien auch die Besten nie gefeit, sagt Thomas Huber. So sind sich die Anwesenden in vielen Punkten überraschend einig.
Das mag daran liegen, dass es vornehmlich ausgewiesene Sozialpolitiker sind, die an der Veranstaltung teilnehmen. Huber, Rauscher und Sandt sitzen im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Landtags. Florian Siekmann (Grüne) betont immerhin sein besonderes Interesse für das Themengebiet, da ihm eine Entlastung der Beschäftigten in Kinderbetreuung und Pflege ein Herzensanliegen sei. Als - laut eigener Aussage - jüngster Abgeordneter im Landtag habe er sich außerdem des Themas bezahlbares Wohnen, gerade für junge Leute, angenommen. Ein weiteres Interesse hebt Siekmann hervor, das ihn für den Termin qualifiziert: Er sei begeisterter Alpinkletterer. Das kommt auch in seiner vergleichsweise professionell anmutenden Outdoor-Bekleidung zum Ausdruck.
Die braucht der Freie Wähler Johannes Seitner augenscheinlich nicht, aber immerhin die Bergschuhe hat der Grasbrunner eingepackt. Seitner kandidiert zum ersten Mal für den Landtag. Er habe als Newcomer noch etwas Lampenfieber, gibt er unumwunden zu. Beruflich verdinge er sich als Händler für erneuerbare Energien, habe also mit Sozialpolitik ehrlichgesagt wenig zu tun. Auf die Frage der Awo-Landesvorsitzenden Nicole Schley: "Was möchtet ihr in der Sozialpolitik umsetzen, wenn ihr gewählt werdet?" hebt sich Seitner durch seine Schwerpunktsetzung ab: Während sich die anderen auf den Dreiklang Bildung, bezahlbares Wohnen, Fachkräftemangel eingeschossen haben, möchte Seitner Barrierefreiheit, Inklusion und einen schnelleren und günstigeren ÖPNV, "damit unser Freistaat so lebenswert bleibt wie er jetzt ist".
Drogenabhängigkeit:"Therapie funktioniert nicht nebenher"
46 Menschen befinden sich aktuell wegen einer Suchterkrankung in einer ambulanten Therapie bei der Caritas in Grafing. Suchttherapeutin Heidi Hesel kennt viele von ihnen - und weiß, auf was es bei der Behandlung ankommt.
Lebenswert ist zweifellos auch jene Hütte, in der die "kurze" einleitende Pressekonferenz stattfindet. Aber heute soll auch noch geklettert werden. Die Idee dazu, erklärt Awo-Landesgeschäftsführer Andreas Czerny, sei ihm gemeinsam mit den beiden Vorsitzenden Nicole Schley und Stefan Wolfshörndl gekommen, als man nach etwas Außergewöhnlichem gesucht habe. "Es braucht neue Formate, eine andere Atmosphäre, sonst schlafen alle ein bei diesen Wahlkampfthemen."
Die Gefahr des Einschlafens ist auf den zu bewältigenden Kletterparcours eher gering. Auch wenn es zunächst auf einen Einsteigerkurs, geeignet für Kinder ab drei Jahren, geht. Neben kleinen Sticheleien - "Du hast es nicht nötig, die Fünfprozenthürde hier zu überspringen", sagt Huber (CSU) zu Rauscher (SPD), als letztere kurz zögert, beim Absprung in besagtes Netz - tragen sich teils rührende Szenen zwischen den Politikern zu. So hilft der CSU-Mann der SPD-Frau dann doch gerne, als sie den Sprung auf die rettende Plattform am Ende einer Seilrutsche verpasst.
Auch inhaltlich überwiegen versöhnliche Töne. Rauscher erklärt, sie habe wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass Ministerpräsident Markus Söder (CSU) inzwischen einen respektvolleren Ton gegenüber der Bundesregierung angeschlagen habe. Huber lobt sozialpolitische Errungenschaften der Bundesregierung. Alle sind sich einig, dass es eines einfacheren Arbeitsmarktzuganges für ausländische Fachkräfte in Pflege und Erziehung bedürfte, alle möchten bezahlbareren Wohnraum schaffen.
"Wir wollen alle im Prinzip ja das gleiche", sagt Nicole Schley. Neben gemeinsamen Zielen eint die Awo-Vorsitzende auch ein gemeinsamer Gegner mit den fünf Politikern: "Es treibt mich um, was mit der AfD abgeht", sagt Schley. "Wir ringen um die besten Lösungen, das sollte uns Demokraten vereinen, das will die AfD vielleicht auf den ersten Blick, auf den zweiten aber nicht", erklärt Doris Rauscher.
Nicht ganz einig ist man sich über die Gründe für den aktuellen Höhenflug des gemeinsamen Gegners. Huber findet aus Berlin angekündigte Kürzungen an diversen Sozialleistungen wie etwa dem Elterngeld, förderten die AfD. Sandt und Siekmann sehen diese Gefahr, wenn man Geld auf Kosten künftiger Generationen ausgebe.
In luftige Höhen führt zum Abschluss auch der Kletterkurs "Kilimandscharo". Auf 14 Metern liegt seine höchste Plattform. Das Wackeln der Bäume im Wind ist deutlich zu verspüren hier oben. Den Aufstieg in solche Höhen trauen sich nicht alle Politiker zu. Seitner gibt das auch gleich offen zu. Rauscher steigt die ersten Meter auf, kehrt dann doch lieber um. Ambitioniert zeigen sich Siekmann und Huber. Auch Julika Sandt absolviert den Parcours, wenn auch etwas weniger vor Selbstbewusstsein strotzend. Zwischen Baumwipfeln und Waldboden hat man nicht nur kein Trampolin zur Sicherung angebracht, dort finden sich auch weder ein Bett noch ein Netz. Unter diesen Umständen kostet es durchaus Überwindung sein ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen. Ein Blick nach unten, und das Gehirn rechnet einem vor, wie hart dieser Aufprall sein könnte. "Einfach ins Seil setzen und vertrauen!", sagt hinter einem ein Mitarbeiter des Kletterparks.