Zum bundesweiten Gedenktag:Gesichter des Entsetzens

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Schülerinnen und Schüler des Max-Mannheimer-Gymnasiums Grafing haben sich mit dem Schicksal des Buben Lorenz D. aus Grafing beschäftigt. Ihr Fazit: "nie wieder!". (Foto: Christian Endt)

Der Landkreis Ebersberg erinnert das erste Mal mit einer zentralen Veranstaltung an das Leid der Opfer des Nationalsozialismus. Grafinger Gymnasiasten stellen in einem aufwühlenden Film das Schicksal eines getöteten Kindes dar.

Von Anja Blum, Grafing

Nicht nur zurück, sondern auch nach vorne blicken: Das war die prägende Haltung beim ersten Gedenken des Landkreises Ebersberg an die Opfer des Nationalsozialismus. Dementsprechend endet die ausgesprochen würdige Veranstaltung in der Grafinger Stadthalle mit einem Ausspruch des Holocaust-Überlebenden Max Mannheimers, nach welchem das Gymnasium nebenan benannt ist: "Wir sind nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Aber wir sind verantwortlich dafür, dass so etwas nie wieder passiert." So münzten die Jugendlichen auf der Bühne Mannheimers Satz auf sich um.

Rund hundert Menschen sind der Einladung des Landrats gefolgt zu dieser Premiere, die "hoffentlich der Beginn einer Tradition" sei, wie Robert Niedergesäß (CSU) in seiner Eröffnungsrede sagt. Auf Initiative von Bernhard Schäfer, Kreisarchivar und Vorsitzender des Historischen Vereins für den Landkreis, soll es von nun jedes Jahr zum bundesweiten Gedenktag auch hier eine Veranstaltung geben. Außerdem ist geplant, ein zentrales Mahnmal zu errichten. Doch laut Niedergesäß ist noch völlig unklar, wo und was entstehen könnte. "Heute ist der Beginn dieses Prozesses, wir müssen gemeinsam überlegen und eine gute Form dafür finden."

Initiator Bernhard Schäfer hofft auf weitere Nachforschungen zu dem Thema

Auch für die kommenden Gedenkveranstaltungen seien jederzeit Ideen willkommen, so der Landrat, "denn wir wollen hier so viele Menschen wie möglich einbinden". Deswegen werde der Ort jedes Jahr wechseln und obendrein jeweils eine andere Opfergruppe in den Fokus gerückt. Auch Schäfer drückt seine Hoffnung aus, dass dieses zentrale Gedenken den Grundstein legt für die weitere Erforschung und Darstellung der Gräuel des NS-Regimes - eben auch im Landkreis Ebersberg. "Denn das ist ein Engagement zur Sicherung unserer Demokratie."

Historiker Bernhard Schäfer gibt einen Überblick über die verschiedenen Opfergruppen - auch im Landkreis Ebersberg. (Foto: Christian Endt)

An diesem Freitagvormittag bereichern knapp 20 Schülerinnen und Schüler des Grafinger Gymnasiums das Programm. Zunächst einmal steuern die Jugendlichen ergreifende Musik bei - von einem Cello-Duett der israelischen Komponistin Nurit Hirsh bis zu Beethovens berühmter "Mondscheinsonate". Doch nicht nur das. Die Gymnasiasten haben sich zudem mit einem furchtbaren Einzelschicksal aus dem Landkreis beschäftigt und dazu einen Filmbeitrag geschaffen. Über ein Kind aus Grafing, das der "Euthanasie" zum Opfer fiel.

Lorenz D., gerade mal sechs Jahre alt, wird von den NS-Ärzten als "schwachsinnig" und später sogar als "gemeingefährlich" eingestuft. Er wird seiner Familie entrissen, in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingesperrt und dort vergiftet. Vier Monate vor Kriegsende. Irgendeine Form von Unterricht für Lorenz sei vergebens, bei ihm nämlich gebe es nichts zu fördern, so die amtliche Beurteilung. Offizielle Todesursache: Lungenentzündung.

Im Kinderhaus der Pflegeanstalt Eglfing-Haar wurden Patienten mit Medikamenten getötet. Darunter auch der kleine Lorenz aus Grafing. (Foto: KBO-Isar-Klinikum/oh)

Diese eiskalte, menschenverachtende Logik der Rassenideologie darzustellen, gelingt dem Film der Schüler auf aufwühlende Weise. Dort, wo es möglich ist, zeigen sie historische Fotografien, doch auch idyllische Naturaufnahmen verfehlen nicht ihre Wirkung. Von Lorenz D. selbst gibt es zwar kein Bild, er wird jedoch lebendig in der detaillierten, intensiven Erzählung seines Schicksals.

Außerdem stehen die Schülerinnen und Schüler selbst ein für das Gedenken und Erinnern, mit ihren Gesichtern, Gedanken und Gefühlen. Ganz ohne Scheu kommentieren sie das Recherchierte vor der Kamera, äußern ihr Entsetzen, ihre Wut, Trauer, Angst, Scham und Sprachlosigkeit. Sie zeigen sich vor allem schockiert darüber, dass auch im Landkreis, quasi vor ihrer Haustüre, ein solches Verbrechen an der Menschlichkeit möglich war. "So viele hielten die Akte von Lorenz in den Händen - doch niemand hat etwas gegen dieses Unrecht unternommen."

Aulis Dürr und Rebecca Brill spielen ein hebräisches Stück der israelischen Komponistin Nurit Hirsh. (Foto: Christian Endt)

Aber auch das aktuelle Erstarken der rechten Ideologie löst Entsetzen unter den Jugendlichen aus. Einem Zitat von AfD-Mann Björn Höcke - nämlich dass die Inklusion ein "Ideologieprojekt" sei, von dem das Bildungssystem befreit werden müsse - stellen sie Auszüge aus der Behindertenkonvention der Vereinten Nationen gegenüber. Fazit der Schüler: Die Achtung der Menschenwürde sei unser aller Aufgabe, und zwar jeden Tag, ein Leben lang. Und auch das Erinnern sei in diesem Zusammenhang entscheidend, denn "das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst" (nach dem französischen Philosophen Jean Baudrillard).

Wie viel es noch aufzuarbeiten gibt, macht ein Vortrag Schäfers deutlich: Der Historiker stellt die verschiedenen NS-Opfergruppen und damit "die Vielgestaltigkeit der Untaten auch im Landkreis Ebersberg" dar. Die politische Verfolgung richtete sich gegen linke wie rechte Gegner, religiöse Unterdrückung traf vor allem widerständige Geistliche und Ordensleute, die Rassenideologie äußerte sich in Zwangssterilisation und "Euthanasie", der Antisemitismus machte auch vor "Mischlingen" nicht Halt.

Auch das "KZ-System" wirkte sich laut Schäfer durchaus auf den Landkreis aus

Im Zuge des "Herrenmenschenwahns" wurden Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene diskriminiert und Kinder, des arischen Nachwuchses willen, ihren Müttern entrissen - zum Beispiel im Lebensborn Steinhöring. Doch auch das "KZ-System" der Nationalsozialisten wirkte sich laut Schäfer durchaus auf den Landkreis aus. "Es gab hier drei Außenkommandos, die Baracken aufbauen mussten, und nach Bombardements wurden die Einschlagstellen von Häftlingen geräumt." Ganz zu schweigen vom Massaker rund um den Todeszug in Poing. Hinzu kam soziale Ausgrenzung - von "Zigeunern, Berufsverbrechern, Asozialen und Abnormen", also etwa Homosexuellen. Und auch hier fänden sich Opfer im Landkreis, deren Schicksale keinesfalls vergessen werden dürften. Genauso wie das des kleinen Lorenz.

"Der Landkreis steht auf für Demokratie und Vielfalt": Demonstration gegen Rechtsradikalismus am Sonntag, 28. Januar, um 16.30 Uhr am Marienplatz in Ebersberg

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