Kreativ in der Krise:Kaleidoskop der Offenheit

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Das Alte Kino Ebersberg präsentiert seinen Film zum Projekt "Welt-Raum": ein berührender Zusammenschnitt von acht Interviews.

Von Anja Blum

Darüber könnte ich ein Buch schreiben! So lautet oft das Fazit, wenn jemand etwas ganz Außergewöhnliches erlebt hat. Doch meist wird aus dem Vorsatz der schriftlichen Erinnerungsarbeit eher nichts. Außer, es handelt sich um das Team des Alten Kinos. Die Ebersberger Kleinkunstbühne nämlich hat nun ein Projekt des Jahres 2020 in ein Buch und sogar in einen Film gegossen. Um festzuhalten und mit anderen zu teilen, was geschehen ist, in dieser umwälzenden Zeit. "Welt-Raum" heißt das ganze Unterfangen - am Mittwochabend wurde es per Livestream von seinen Machern vorgestellt: Theaterpädagogin Andrea Kilian aus Ebersberg, Sozialpädagoge Tom Rauch aus Glonn sowie Violetta Ditterich vom Alten Kino haben zusammen den Welt-Raum gestaltet.

Der Titel ist freilich nicht zufällig gewählt, von Anfang an ging es darum, die ganze Welt - sprich: Gesellschaft - in einen Raum zu bringen. Dass sich die Welt 2020 derart verändern würde, konnte da noch keiner ahnen. Ursprünglich geplant war, den Welt-Raum mit einer möglichst diversen Gruppe als freies Theaterprojekt umzusetzen, in regelmäßigen Treffen sollte ein kreativer Liveabend erarbeitet werden. Doch Corona machte jedwede Probenarbeit unmöglich - also musste das Projektteam umplanen. Man beschloss, den Welt-Raum ins Virtuelle umzusiedeln und, über eine feste Gruppe hinaus, für alle Interessierten zu öffnen.

Theaterpädagogin Andrea Kilian aus Ebersberg beim Livestreaming im Alten Kino Ebersberg. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

"Das Thema lag ja auf dem Tisch: Corona war allgegenwärtig", erklärt Kilian im Livestream. "Also mussten wir die Menschen nur noch dazu bringen, kreativ zu werden, und für eine Form des Austauschs sorgen." Also startete das Alte Kino einen Aufruf: Die Bewohner des Landkreises sollten Gedanken, Beobachtungen, Ideen und Visionen zur Pandemie einschicken, in welcher Form war absolut frei: ob als Text, Musik, Video, Bild, Foto oder Skulptur. Außerdem führte das Team Einzelinterviews, alle im gleichen Setting auf der Bühne, mit den selben Fragen - und mit einem Trick, um trotz der Distanz Nähe zwischen den Interviewgästen herzustellen: Alle bekamen den Auftrag, ein Objekt mitzubringen. Etwas, das ihn oder sie durch Corona begleitet oder symbolisch für diese außergewöhnliche Zeit steht. Dieses Objekt "wanderte" dann jeweils in das nächste Interview, dessen Gast dazu befragt wurde. Eine Art Kennenlernspiel: Was für ein Mensch könnte dieses Objekt mitgebracht haben, und warum genau dieses?

Um all das, was da im Alten Kino geschehen ist, mit der Öffentlichkeit teilen zu können, beschloss das Team also, sowohl ein Buch als auch einen Film zu veröffentlichen. Überdies ist das ganze Material, der Aufruf, die Einsendungen und Interviews, auf der Homepage der Kleinkunstbühne zu finden, im Buch gibt es jeweils einen QR-Code. So manche der kreativen Beiträge präsentiert das Team auch beim Livestream: Die mit Tusche gezeichneten "Erregas" von Andreas Mitterer, ausdrucksstarke Seniorenporträts, gemalt von Petra Winkelmeier, und den Song "Africa" von der Band Black Dia. Wie Tom Rauch erklärt, musste diese Hymne auf Distanz entstehen, übers Internet, weil einer der Sänger seine Heimat Senegal wegen Corona nicht mehr verlassen durfte.

Violetta Ditterich vom Alten Kino Ebersberg präsentiert das Buch zum Projekt "Welt-Raum". (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Höhepunkt dieses besonderen "Mittwochskinos" aber ist die Dokumentation, mit der Filmer Valentin Winhart aus Glonn den Welt-Raum verewigt hat. Der Film ist ein Zusammenschnitt von acht Interviews - "und jede Sekunde wertvoll", wie jemand völlig richtig im Chat zur Veranstaltung schreibt. Denn es sind ganz unterschiedliche, aber durchweg herzerwärmende Geschichten und Menschen, die der Zuschauer hier kennenlernen darf. Ein Kaleidoskop an Offenheit, Respekt und, ja, Liebe. Zum Leben an sich, zur Menschheit und zur Umwelt.

Grundlage für dieses überzeugende Ergebnis war wohl das Skript der Teammitglieder. Sie hatten sich für die Gespräche allerhand spannende Fragen überlegt, auch solche, die man normalerweise eher nicht stellt. Und sie traten als "Verbindungsleute" auf zwischen den Gästen, so dass eben doch ein Austausch stattfinden konnte. Es scheint fast, als hätten Rauch, Ditterich und Kilian nie etwas anderes getan als Fragen zu stellen, gut zuzuhören und Dialoge behutsam zu lenken. Hinzu kommt Valentin Winharts Gespür für das Projekt: Mit Kameraführung und Schnitt sorgt der Filmer für das richtige Tempo, für Abwechslung und eine geradezu fesselnde Dramaturgie. Manchmal sind es nur Momentaufnahmen, die er gegeneinander stellt, manchmal lässt er das Publikum ganze Szenen miterleben. Zu guter Letzt aber ist auch den Gesprächspartnern zu danken, denn sie schlüpfen hier nicht in irgendwelche Rollen, sondern zeigen sich ganz offen und authentisch, mit all ihren Überzeugungen, aber auch Zweifeln. Deswegen seien diese Interviews "supergewinnbringend" gewesen, "ein großes Geschenk", sagen Rauch und Kilian.

Schwierige Themen sind es, die der Ebersberger "Welt-Raum" angeht: Toleranz, Ungerechtigkeit, Migration, Rassismus. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der erste Teil des Films widmet sich hauptsächlich dem Kennenlernspiel, dem Reigen der Objekte. Auch wenn so mancher nicht gleich weiß, was er da in Händen hält, gelingt es den Gästen erstaunlich gut, sich in den jeweils anderen einzufühlen, die Geschichten hinter den Dingen zu erahnen. Klar, alle sind auf irgendeine Weise von Corona betroffen - und hier ist sehr viel Empathie im Spiel. Die Kerze steht für Mutterliebe, die Tusche für die Muße zur Kunst, der Kassettenrekorder für Gute-Nacht-Geschichten trotz Kontaktverbot? Vieles davon ist völlig richtig, nur: Je näher sich die Gäste an die Details wagen, desto schwieriger wird es. Vom Geschlecht über das Alter bis hin zu Tattoos und Hobbys: Bei der Auflösung samt Porträtfoto gibt es so manche Überraschung. "Richtig, es ist ein Mensch!" Glück gehabt.

Derart "aufgewärmt", geht es im Alten Kino ans Eingemachte. Um die eigenen Pandemieerfahrungen zum Beispiel. Zwei Infizierte, eingesperrt in einem Zimmer, Quarantäne im Elternhaus, die Sorge um ein Neugeborenes, den "gestressten Ton" der Leute, das Hamstern im Supermarkt. Viele Befürchtungen werden da geäußert, aber auch Positives. "Das jetzt plötzlich so radikale Veränderungen möglich sind, das begeistert mich!" Schwierige Themen sind es, die der Ebersberger Welt-Raum angeht: Toleranz, Ungerechtigkeit, Migration, Rassismus. Aber auch Visionen, wie die Welt ein Stückchen besser werden könnte; im Kleinen, wie im Großen. "Wir alle brauchen Mut, Geduld, Liebe und Hoffnung." Was für ein schönes Fazit.

Sozialpädagoge Thomas Rauch bei der Buch- und Filmpräsentation per Livestream im Alten Kino Ebersberg. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die Interviewten: Stefan Blieninger, Aliou Diallo, Viivi Fleischer, Tanja Hafner, Bärbel Körner, Andreas Mitterer, Abdullah Osman, Nadiezka Rodriguez Reyes (Nadja). Wer Teil des Welt-Raums werden möchte: Mail an weltraum@alteskino.de.

© SZ vom 29.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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