Haar/München:Auf Entzug und doch zuhause

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Das Isar-Amper-Klinikum in Haar hat damit begonnen, Suchtpatienten auch ambulant zu behandeln

Von Bernhard Lohr, Haar/München

Das Glas Wein in gepflegter Atmosphäre und der Besuch in der Kneipe fallen derzeit aus. Es gibt keine Partys und keine Familienfeiern. Doch getrunken wird nach wie vor. Und oft zu viel. Für viele wird gerade in der Corona-Pandemie mit den damit einhergehenden Belastungen der Alkohol zum Problem. Ulrich Zimmermann, Chefarzt der Suchtklinik des Isar-Amper-Klinikums des Bezirks, bekommt von seinen Patienten immer wieder erzählt, dass sie Angst vor Jobverlust, Einsamkeit und andere Gründe zur Flasche greifen lässt. Er hat an seiner Einrichtung mit Tageskliniken in Schwabing und Haar vielen Patienten den Schrecken eines Alkoholentzugs genommen. Vieles ist heute sogar ambulant möglich.

Denn manchmal bringt Covid-19 Dinge auch voran: Die Klinik für Suchtmedizin hat sich notgedrungen im Frühjahr 2020 auf neues Terrain begeben und auch für Schwerabhängige ambulant oder in einer Tagesklinik einen Entzug ermöglicht. Es funktionierte. Etwa 130 Patienten wurde seit April 2020 auf diese Weise geholfen. Ende vergangenen Jahres wurden in der ehemaligen Drogenentzugsstation "Villa" am Schwabinger Krankenhaus und am Bezirksklinikum Haar neue Tageskliniken eröffnet. Auch opiatabhängige Patienten können hier tagesklinisch behandelt werden.

Ulrich Zimmermann war relativ neu in Haar, wo deutschlandweit heute mit die meisten Alkoholpatienten behandelt werden, und er brachte frische Ideen mit. Als die Corona-Pandemie die Menschen in Bayern das erste Mal in den Lockdown zwang, war eine der großen Befürchtungen beim neuen Chefarzt der Suchtklinik des Bezirks, dass Entzugsbehandlungen oder Therapien gänzlich unmöglich werden. Er erinnerte sich daran, dass in den USA und in Großbritannien die ambulante Sucht- und Alkoholtherapie Standard ist. Also nahm er mit seinem Team, auch Schwerabhängige unter gewissen Voraussetzungen ins ambulante Behandlungsprogramm auf.

Der Patient bekommt dabei eine Krankschreibung und einen Ausweis, der die Behandlung attestiert. Er kommt regelmäßig, manchmal auch zwei Mal täglich, in die Ambulanz und hat Medikamente zur Hand, die die Entzugserscheinungen mildern. Der eigentliche Entzug, sagt Zimmermann, beginne meist montags und am Wochenende sei das erste Kapitel durch.

Mittlerweile werden viele Patienten so behandelt. Zimmermann will damit die Angebote für mehr Menschen öffnen. Er hält es für fatal, dass nur ein niedriger Prozentsatz der Suchtkranken den Weg in Fachkliniken und Therapieeinrichtungen findet. Viele scheuen eine stationäre Aufnahme. Andere haben schlicht nicht die Möglichkeit, weil sie zuhause etwa wegen der Kinder gebraucht werden. Der Weg zum Allgemeinarzt falle leider vielen heute noch deutlich leichter, sagt Zimmermann. Niemand solle sich wegen eines Suchtproblems stigmatisiert fühlen. Er will Hürden abbauen, damit Kranke sich Hilfe holen. "Die Niedrigschwelligkeit ist das Entscheidende."

Aber nicht jeder Patient eignet sich für eine ambulante Therapie. Derjenige darf Zimmermann zufolge etwa nicht in Gefahr stehen, einen Krampfanfall zu entwickeln. Er soll in der Zeit nicht mit dem Auto fahren, muss also zu den Terminen auch so gelangen können. Außerdem soll zur Sicherheit jemand zuhause sein. Die Kriterien, nach denen die Patienten ausgewählt werden, hat Zimmermann weitgehend selbst erarbeitet. Bisher habe es nur vage formulierte Behandlungs-Leitlinien gegeben. Auch im angelsächsischen Raum habe er nicht viel Konkretes gefunden. Wichtig ist auch der Pflegedienstleiterin an der Suchtklinik, Lena Heyelmann, dass einmal an der Einrichtung angedockte Patienten flexibel je nach Lage passend behandelt werden können. Wer ambulant nicht mehr klarkomme, könne in die Tagesklinik aufgenommen werden, oder auch auf Station. Die Tagesklinik in Haar ist für Patienten im Einzugsgebiet München-Ost zuständig, die in Schwabing im Süd-Westen.

Und wenn ein Patient während der Therapie doch einmal etwas trinkt? Das komme vor, sagt Heyelmann. Aber eine Katastrophe sei das nicht gleich. Zimmermann vergleicht es mit einem Kind, das Laufen lernt und hinfällt. Wichtig sei, dass der Arzt und Therapeut den Patienten ermutigend begleite. Dem Chefarzt geht es, im Fachjargon ausgedrückt, darum, "die Änderungsmotivation zu stärken". Für manchen sei das dann der Moment, von einer ambulanten doch in eine stationäre Therapie zu wechseln. Zimmermann erlebt im Lockdown weniger Fälle von Personen, die draußen alkoholisiert zusammenbrechen und von der Polizei gebracht werden. Wer sich in der Corona-Tristesse alles in den Alkohol flüchtet, kann auch er nur erahnen.

Die Ambulanzen Schwabing und Haar beraten auf Anfrage sehr kurzfristig; die "Villa", James-Loeb-Straße 2, am Klinikum Schwabing werktags von 8.30 bis 17 Uhr, Telefon 089/41 20 06-230; und Haus 30 am Klinikum in Haar werktags von 8 bis 16 Uhr, mittwochs bis 18.30 Uhr, Telefon 089/45 62-32 95.

© SZ vom 02.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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