Kunstverein Ebersberg:Wie schön ihr seid!

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Christian ist ein erfahrenes Aktmodell, als Schauspieler und Stadtführer steuert er auch Accessoires aller Art bei. (Foto: Christian Endt)

Beim regelmäßigen Aktzeichnen unter der Leitung von Ruth Effer geht es nicht um Perfektion. Sondern darum, das Sehen wieder zu lernen und zu einer freien Form zu finden.

Von Michaela Pelz, Ebersberg

Der Mann, den man da auf einem Podest erspäht, trägt ... Hörner? Tatsächlich. Abgesehen davon ist er splitterfasernackt. Nicht gänzlich unerwartet, schließlich trifft man sich hier in den Räumen des Ebersberger Kunstvereins einmal im Monat zum Aktzeichnen. Und dazu, "genau hinzuschauen". Das Sehen nämlich, so Kursleiterin Ruth Effer, präge diese Disziplin in der Kunst, die zu den ältesten gehöre, am meisten. Werde aber heute am wenigsten praktiziert. "Es schauen ja alle immer nur noch in ihr Handy." Das Aktzeichnen hingegen baue einen Konzentrationspegel auf, "die Leute kommen ins Hier und Jetzt", erklärt die Diplomkünstlerin, Kunsttherapeutin und zertifizierte Yogalehrerin.

"Löst euch von der Ergebnisorientierung", predigt Kursleiterin Ruth Effer. (Foto: © Christian Endt)

Darum fordert Effer die Anwesenden nach dem "Warmzeichnen" auf, den Blick ausschließlich auf die Bewegungen von Modell Christian Silys zu richten und - "egal, ob auf einem Blatt oder auf mehreren hintereinander" - seine verschiedenen Posen einzufangen. Zehn Minuten dauert diese Sequenz, während der sich das Modell, nun ohne Kopfschmuck, ganz langsam zu sphärischen Klängen bewegt.

Mit Akt-Performance hat Silys viel Erfahrung, er ist damit sowohl bei Kunstausstellungen als auch in den Kammerspielen aufgetreten. Der 43-jährige Münchner hat viele Berufe: Er ist Schauspieler, arbeitet mit behinderten Menschen, und bei Führungen des Weißen Stadtvogels kann man ihn im Henkers- oder Mönchsgewand bewundern.

Bei manchen Zeichnungen überlagern sich die Linien, die für die Bewegung stehen ... (Foto: Christian Endt)
... bei anderen schmiegen sich die Figuren dicht an dicht ... (Foto: Christian Endt)
... und schließlich gibt es auch erkennbare "Einzelbilder". (Foto: Christian Endt)

2014 ließ Silys das erste Mal vor einer Zeichengruppe die Hüllen fallen. In Ebersberg war das. "Deswegen freue ich mich ganz besonders, heute wieder hier sein zu dürfen", sagt er und strahlt. Von der Scham, die er damals doch ein wenig verspürt habe, ist nun nichts mehr zu merken. Völlig ungezwungen präsentiert sich der drahtige Mann auf dem Podest, kommt mit maximal kontrollierten, zeitlupenlangsamen Bewegungen aus der Hocke in eine aufrechte Haltung, sodass man meint, im Zeitraffer die Entwicklung zum Homo sapiens beobachten zu dürfen. Nach einigen weiteren Schritten und Drehungen steht das Modell da wie ein griechischer Athlet.

Auf maximale Körperbeherrschung kommt es bei den Bewegungen in Zeitlupe an. (Foto: Christian Endt)

Die Bleistifte fliegen derweil nur so übers Papier, hier wird ein blauer Stift benutzt, dort eine Feder oder ein Pinsel. Gerlinde erklärt ihre entsprechende Präferenz so: "Er ist geschmeidiger, quasi die Verlängerung des Zeigefingers." Die freischaffende Künstlerin aus München ist nicht die einzige vom Fach: Auch Christina hat ein eigenes Atelier, veranstaltet regelmäßig Ausstellungen. Die Poingerin schätzt am Aktzeichnen besonders die angenehme Atmosphäre sowie die Herausforderung, da sie sonst "eher abstrakt" arbeite. Ihre Bekannte Lisa, die sich "seit zwei Jahren in der einen oder anderen Form" künstlerisch versucht, ist heute das erste Mal dabei. Doch die 54-Jährige setzt den Stift nicht ein Mal ab, zieht Linie um Linie, die Augen nur auf das tänzelnde Modell gerichtet.

Genau das ist es, was Effer erreichen will. Es gehe darum, die Kontrolle abzugeben, zu einer freien und intuitiven Form zu finden. Deswegen fordert sie die über ihre Blätter Gebeugten auf, sich auf ihre Atmung oder Handhaltung zu konzentrieren anstatt auf ein möglichst wirklichkeitsgetreues Abbild. "Löst euch von der Ergebnisorientierung", schärft Effer den Teilnehmenden ein, denn die sei immer mit Angst verbunden und deshalb eine Bremse für den künstlerischen Prozess.

"Zeichnen kommt durch Zeichnen", sagt die Kursleiterin

Bei Lisa Nummer zwei hat es funktioniert: "Durch die Schnelligkeit der Positionswechsel kommt man erst gar nicht in Perfektionszwang." Seit Langem habe sie keinen Stift mehr angefasst, erzählt die 29-jährige ITlerin. Zwar zeichne sie gern, komme aber oft nicht dazu, "außerdem fehlt mir die Inspiration." Deswegen ist sie so froh, von ihrer früheren Mitschülerin Verena - "wir waren zusammen im Kunstzweig" - mitgenommen worden zu sein. Nicht als Einzige. Auch Architektin Jana, die das Zeichnen wiederentdecken möchte, wurde von eben jener Verena "angeschleppt".

Die Lust der 30-Jährigen am Aktzeichnen hat einen Grund: Zwar male sie derzeit "nur" drei Tage die Woche, arbeite sonst in einem Café, doch langfristig sehe sie in der Kunst ihre berufliche Zukunft. Wie alle im Raum, zehn Teilnehmende sind an diesem Sonntag ins Studio an der Rampe gekommen, achtet auch die junge Frau hoch konzentriert auf das, was jetzt auf dem Sofa passiert.

Besonders reizvoll ist es, mit bereits bearbeiteten Untergründen zu arbeiten statt die Linien auf weißes Papier zu zeichnen. (Foto: Christian Endt)

Mittlerweile hat Christian Silys aus seiner Schauspielkiste eine venezianische Maske hervorgezaubert, die dem ähnelt, was einst die Pest-Ärzte im Gesicht trugen. So kniet er nun auf dem Sofa. Der Schnabel begeistert die Zeichnenden merklich. Auch Andree, der neben seinem Brotberuf als Postbote genügend Zeit für eine Ausbildung in Malerei und Grafik fand. Schon lange sei er künstlerisch tätig, derzeit jedoch eher bildhauerisch unterwegs, erzählt er. "Aktzeichnen ist für mich der Punkt, dass ich das Zeichnen nicht verliere."

Neben der Übung schätzt der 59-Jährige daran die Möglichkeit zum inspirierenden Austausch. Aktuell verbindet er Druck mit Zeichnung, hat also einen bereits bearbeiteten Untergrund dabei, kein weißes Blatt. Auf das Papier in warmem Cockerspaniel-Gelb setzt Andree akkurate Federstriche, hat aber auch Wachsmalstifte oder Kreiden in allen Farben dabei.

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Doch nicht nur beim Material, auch bei der Zeichenhand lädt Effer zum Variieren ein. Gekonnt demonstriert sie, wie man die Rechte und Linke gleichzeitig einsetzt. Natürlich ist das etwas für sehr weit Fortgeschrittene - geht es aber um die grundsätzliche Fertigkeit, lässt sie ein "ich bin halt unbegabt" absolut nicht gelten. "Zeichnen kommt durch Zeichnen", sagt sie. Alles eine Frage der Regelmäßigkeit. "Wenn ich ein Instrument lernen will, übe aber nur einmal im Monat, kann ich auch keine konzertreife Leistung erwarten."

Unmerklich ist die Zeit vergangen, es folgt noch eine letzte Sequenz ohne Bewegung. Eifrig wird skizziert, ohne Scham gezeigt, was ist. Alle sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache, auch Sandra, die aus dem Landkreis stammt, wie die meisten. Die Grafikdesignerin war schon öfter da, zeichnet und illustriert häufig. Sie findet die Bewegungsübungen am schönsten. "Man wird dadurch viel lockerer, sieht danach deutlich den Unterschied."

Gezeichnet wird einmal im Monat, für September ist eine Ausstellung geplant

Das kann Verena Ditterich nur bestätigen. Die Vertreterin des Ebersberger Kunstvereins hat selbst voller Begeisterung teilgenommen und betont, wie froh man Anfang des Jahres über Effers Bereitschaft gewesen sei, das Aktzeichnen zu übernehmen. Das Schöne sei dessen Regelmäßigkeit. "Nicht wie ein Workshop, drei Tage am Stück. Wenn man hier einmal nicht kann, gibt es immer die Möglichkeit, das nächste Mal wieder mitzumachen."

Zu guter Letzt überrascht Effer alle mit der Ankündigung einer Werkschau im September. Deren Titel orientiert sich an einem berühmten Michelangelo-Zitat, Motto des gesamten Formats: "Auf dass man tausend Jahr, nachdem wir starben, sehe, wie schön Ihr wart!" Das werden sie auch in Zukunft sein, die mal männlichen, mal weiblichen Modelle, bei denen weder Körperform noch Alter entscheidend ist. Dazu noch einmal Christian Silys, der es ja wissen muss: "Ein durchtrainierter Body ist absolut keine Voraussetzung für uns. Und meine älteste Kollegin wird bald 81."

Termine 2024: Jeweils sonntags, von 11 bis 13 Uhr. 26. Mai | 09. Juni | 14. Juli | 22. September | 20. Oktober | 24. November | 15. Dezember. Ab sechs Personen können die Treffen stattfinden, darum wird bis spätestens eine Woche vor Termin um Anmeldung gebeten per Mail an rutheffer@hotmail.com. Kosten: Mitglieder elf Euro, Nichtmitglieder 15 Euro, ermäßigt neun Euro.

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