Amtsgericht Ebersberg:Religiöser Fanatismus oder rege Fantasie?

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Unter anderem mit einer Gebetskette soll der Angeklagte auf seine kleine Schwester eingeschlagen haben. (Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Weil ihm der offene Lebensstil seiner Schwester nicht gefallen habe, soll ein 25-Jähriger das Mädchen jahrelang verprügelt haben. Nun steht er in Ebersberg vor Gericht.

Von Andreas Junkmann, Ebersberg

War es ein Fall von religiösem Fanatismus oder doch nur eine dreiste Lügengeschichte einer Teenagerin? Diese Frage musste nun das Ebersberger Amtsgericht in einem Prozess gegen einen 25-Jährigen aus dem mittleren Landkreis beantworten. Der aus Syrien stammende Mann soll seine jüngere Schwester jahrelang verprügelt, beleidigt und bedroht haben, weil er mit ihrem "offenen und selbstbestimmten Lebensstil", wie es in der Anklageschrift hieß, nicht einverstanden gewesen sein soll. Das zumindest behauptete die inzwischen 17-jährige Schwester gegenüber den Ermittlungsbeamten. Der Bruder hingegen stritt vehement ab, jemals Gewalt gegen das Mädchen ausgeübt zu haben.

Der Angeklagte soll mit einer Gebetskette auf seine Schwester eingeschlagen haben

Konkret ging es in der Verhandlung in Ebersberg um zwei Vorfälle vom Mai 2020. Zunächst soll der Angeklagte seiner Schwester mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen haben, einige Tage später sei die Situation in der Familie dann komplett eskaliert. Der Staatsanwaltschaft zufolge habe der 25-Jährige auf dem Handy des Mädchens ein Foto entdeckt, auf dem sie zusammen mit Freundinnen ohne Kopftuch unterwegs war. Daraufhin sei er ausgerastet, habe die Schwester als "dreckige Christin" beschimpft und ihr sogar mit dem Tod gedroht. Nachdem er ihr mit dem Handy ins Gesicht geschlagen haben soll, habe er sie auf den Boden geschubst und ihr in den Unterleib getreten. Laut Anklageschrift soll der Mann dann auch noch mit einer Gebetskette auf das Mädchen eingeprügelt haben.

Es waren heftige Vorwürfe, die der Angeklagte vor Gericht jedoch abstritt. Stattdessen erzählte er eine ganz andere Version der Geschichte. Er liebe seine kleine Schwester und wolle sie beschützen, "aber sie weiß manchmal nicht, was sie redet", sagte der 25-Jährige. Er spielte damit auf die psychischen Probleme an, mit denen das Mädchen seit längerer Zeit zu kämpfen habe. Mehrfach sei sie bereits von zu Hause abgehauen, "wir haben uns Sorgen gemacht", so der Mann. Außerdem habe sie in einer Art Parallelwelt gelebt und davon geträumt, ein Leben zu führen, wie die Menschen auf Instagram und Youtube. Da sie sich in ihrer Familie eingeengt gefühlt habe, sei sie zum Jugendamt gegangen, in der Hoffnung in einem Heim ein Leben ohne Regeln führen zu können. Bei der Behörde aber, so erzählt es der Angeklagte, habe man sie mit dem Hinweis abgewiesen, es müsse erst etwas in der Familie vorgefallen sein, um sie aufnehmen zu können. Wenige Tage später zeigte das Mädchen ihren Bruder wegen der angeblichen Prügel bei der Polizei an.

"Sie denken, dass ich die Familienehre schmutzig gemacht habe", sagt das Mädchen

Diese Vorwürfe wiederholte die heute 17-Jährige auch in der Vernehmung durch die Ermittlungsrichterin. Selbst vor Gericht aussagen konnte sie nicht, da sie inzwischen mit ihrer Mutter in der Türkei lebt. Auf dem Video, das Richterin Vera Hörauf im Sitzungssaal abspielte, erzählte das Mädchen von der Situation in ihrer Familie. Es habe jeden Tag Streit gegeben, der Vater sei gewalttätig gewesen und habe sie und ihre Geschwister regelmäßig geschlagen. Vor allem sie selbst habe immer wieder die Wut der ganzen Familie zu spüren bekommen. "Sie denken, dass ich die Familienehre schmutzig gemacht habe", sagte das Mädchen. "Dabei möchte ich doch nur gleich behandelt werden wie meine Brüder."

Die Vorfälle schilderte sie so, wie in der Anklageschrift verlesen: von dem Schlag ins Gesicht über die Morddrohung bis hin zu den Prügeln mit der Gebetskette. Die ganze Familie habe dabei zugesehen und nichts unternommen. Böse will sie auf ihren Bruder deshalb aber nicht sein, denn dieser habe in dem Moment geglaubt, dass er das Richtige tue. "Sie dachten, dass Schlagen normal ist", so das Mädchen in dem Video. Dort berichtete sie auch noch von weiteren Vorfällen in der Vergangenheit, etwa als der Angeklagte sie mit einer Flasche und einem Kleiderbügel verprügelt oder ihren Kopf gegen die Wand geschlagen haben soll. "Ich wusste, dass ich hier nicht mehr leben kann."

Die Geschwister stützen die Version des Angeklagten

Nach diesen zwei völlig gegensätzlichen Aussagen, kam es vor Gericht auf die geladenen Zeugen an - und diese stützen die Version des Angeklagten. Sowohl dessen jüngerer Bruder als auch eine andere Schwester beteuerten, es habe nie Gewalt gegen das Mädchen gegeben. "Sie glaubt, dass wir dumme Leute sind", sagte der 23-Jährige. "Sie wollte nicht bei uns wohnen und dafür musste sie einen Grund finden." Auch die Schwester gab vor Gericht an, dass das Mädchen immer wieder Probleme gemacht habe. "Wir wussten, dass sie krank ist", so die 21-Jährige. Ihr Bruder sei hingegen wie ein Vater für sie gewesen, "er würde sie nie schlagen".

Letztendlich ließen sich die Vorwürfe gegen den Angeklagten schlichtweg nicht beweisen. Sein Mandant spreche perfekt Deutsch, habe einen Beruf gelernt und sei hier fest verwurzelt, sagte der Verteidiger. "Die Familie kommt mir nicht gewalttätig vor." Auch der Staatsanwalt räumte ein, dass sich das Mädchen wohl in ihrer Handynutzung eingeschränkt gefühlt habe und mehr Freiheiten haben wollte. Richterin Vera Hörauf fasste es bei der Urteilsverkündung so zusammen: "Es verbleiben insgesamt Zweifel, deshalb ist der Angeklagte freizusprechen."

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