Ebersberg:Besonders gastfreundlich

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Auch im Landkreis Ebersberg gibt es Probleme, Wohnraum für Asylbewerber zu finden. Hallen, wie hier im vorigen Jahr am Gymnasium Kirchseeon, will der Kreis vorerst aber nicht belegen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Mehr als 90 Prozent der registrierten Geflüchteten aus der Ukraine sind im Landkreis Ebersberg privat untergebracht - das liegt deutlich über dem oberbayerischen Durchschnitt.

Von Barbara Mooser, Ebersberg

Wer mit anderen in einer Wohngemeinschaft zusammenzieht, schaut sich die künftigen Mitbewohner meist recht genau an: Ordnungsfanatiker oder Chaot? Nachtlicht oder Frühaufsteher? Begeisterter Fleischesser oder Veganer? Ob es gut klappt oder nicht mit dem Zusammenleben, das hängt auch davon ab, wie ähnlich man viele Dinge im Leben sieht. In den vergangenen Wochen aber haben sich im Landkreis Ebersberg viele Wohngemeinschaften gebildet, bei denen sich die Beteiligten nicht nur vorher nicht gekannt haben, bei denen darüber hinaus noch eine Sprachbarriere dazu gekommen ist: Wohngemeinschaften aus Oberbayern und Ukrainern nämlich. Mehr als 90 Prozent der Geflüchteten, die im Landkreis Ebersberg untergekommen sind, leben in Privathaushalten. Das ist deutlich mehr als im oberbayerischen Schnitt, hier sind nur gut 70 Prozent der Menschen privat untergebracht.

Das zeigt jedenfalls eine Momentaufnahme vom 20. April. Laut Regierung von Oberbayern waren zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 43 200 ukrainische Geflüchtete in Oberbayern im Ausländerzentralregister registriert. Hiervon waren fast 12 900 Personen in staatlichen Unterkünften untergebracht. Im Landkreis Ebersberg waren rund 1700 Geflüchtete aus der Ukraine registriert, von denen rund 150 in staatlichen Unterkünften untergebracht sind. Freilich hat sich seitdem schon wieder einiges geändert, schließlich müssen weiterhin Menschen in der Ukraine vor dem Krieg fliehen. Und ganz belastbar sind die Zahlen auch nicht, darauf weist die Regierung von Oberbayern hin: Schließlich können ukrainische Staatsangehörige, die über einen biometrischen Reisepass verfügen, visumfrei nach Deutschland einreisen und sich 90 Tage ohne Anmeldung hier aufhalten. Ukrainer, die hier Familie oder Freunde haben und bei ihnen untergekommen sind, sind also möglicherweise noch gar nicht alle erfasst.

Dennoch lässt sich eines wohl aus den Zahlen ablesen: Die Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft im Landkreis Ebersberg scheint überdurchschnittlich groß zu sein.

"Das ist wirklich auffällig", bestätigt Brigitte Keller, die den Ukraine-Krisenstab im Ebersberger Landratsamt leitet und sich über diese Tatsache sehr freut. In vielen Konferenzen bekommt sie mit, wie es woanders läuft; in vielen Landkreisen müssen bereits Turnhallen zu Unterkünften umgebaut und eilig Containerwohnanlagen geplant werden, um die geflüchteten Menschen unterzubringen - so war es nach der großen Flüchtlingswelle 2015 auch im Landkreis Ebersberg, damals wurden fast alle Turnhallen der landkreiseigenen Schulen zumindest zeitweise so genutzt.

Heute ist die Turnhalle des Gymnasiums Kirchseeon die einzige im Landkreis, in der Betten und Spinde aufgebaut sind, und auch diese werden meist nur kurz gebraucht. Tagelang war die Halle jetzt ganz leer, erzählt Keller, am Dienstag nun kam wieder einmal ein Bus mit 30 Menschen an. Auch diese sollen sich idealerweise aber nicht in der Massenunterkunft einrichten müssen, denn die Gastfreundschaft der Menschen im Landkreis hat nicht nachgelassen: Immer noch halten viele ihr Angebot aufrecht, Ukrainerinnen und Ukrainer mindestens vorübergehend bei sich unterzubringen.

Um die Verteilung gut zu organisieren, hat man im Landratsamt eigens ein Dashboard aufgebaut, auf das auch die Gemeinden zugreifen können. Ganz genau wird hier angezeigt, wo es noch Plätze gibt, wie diese aussehen und welche Gäste sich die Gastgeber wünschen. Am Dienstag waren immerhin noch 612 Angebote im System, darunter einige Wohnungen und ganze Häuser, vor allem aber einzelne Zimmer in der eigenen Wohnung oder im Haus - wie in einer WG eben.

Diese Bereitschaft, enger zusammenzurücken und Einschränkungen bei der eigenen Bequemlichkeit zu akzeptieren, freut und fasziniert alle Beteiligten. Tobias Vorburg vom Markt Schwabener Verein Seite an Seite, der auch schon nach 2015 die Flüchtlingshilfe koordiniert hat, sieht große Unterschiede im Vergleich zu damals. Und die Hilfsbereitschaft sei auch nach zwei Monaten ungebrochen, erzählt er.

Doch diese spezielle Situation macht es nicht unbedingt einfach, die Hilfe für die Geflüchteten zu organisieren. Den Überblick zu bewahren und an die Menschen heranzukommen, das sei schon schwieriger, sagt Vorburg. Er und seine Mitstreiter haben viele offene Angebote, ein Begegnungscafé und Sprechstunden organisiert. Natürlich schlagen bei ihnen auch immer wieder Fälle auf, bei denen es nicht so gut läuft. Schlüsse auf die Gesamtsituation ließen sich daraus aber nicht ziehen, sagt Vorburg: Schließlich tendiert man ja nicht dazu, zur Beratung zu gehen, wenn alles super läuft.

Gefordert sind aber nicht nur die Helferkreise, die sich innerhalb kürzester Zeit neu formiert haben und laut Brigitte Keller Großartiges leisten. Gefordert sind auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gemeinden. "Ambivalent", antwortet deshalb auch Rainer Schott, der in Kirchseeon für die Betreuung der Geflüchteten zuständig ist, auf die Frage, wie er die Situation beurteilt. "Einerseits finde ich es toll, dass so viele Leute die Menschen bei sich privat unterbringen", sagt er. Andererseits: Was, wenn die Bereitschaft in ein paar Wochen doch rapide sinkt? Dann nämlich sei die Gemeinde dafür zuständig, Ersatzunterkünfte zu suchen.

Zwar gibt es laut Schott die Möglichkeit, die Menschen zurück ins Ankerzentrum zu schicken, also dahin, wo sie zuerst angekommen sind. Doch das wünsche sich ja niemand, "gerade bei Familien mit Kindern wäre das besonders schwer", sagt Schott. Schon wieder müssten die Menschen dann aus ihrer mittlerweile etwas vertrauten Umgebung gerissen werden, schon wieder müssten sie Stress und Neuanfang auf sich nehmen. In Kirchseeon habe man bisher niemanden zurückschicken müssen, sagt Schott, aber aus Poing habe er von einem solchen Fall gehört. Er erzählt von einer Albtraum-Vorstellung, die ihn manchmal verfolgt: dass er Geflüchtete in der ATSV-Halle unterbringen muss, weil es sonst keinen Platz mehr gibt.

Dabei macht er auch niemandem groß Vorwürfe, wenn es nicht miteinander klappt. Aber "ein bisschen blauäugig" sei doch so mancher in dem Wunsch zu helfen an die Sache herangegangen, sagt Schott. Dass die Beherbergung von Geflüchteten eben auch herausfordert und anstrengt, das hätten manche anfangs nicht auf dem Schirm gehabt, gerade wenn die Gäste eben nicht in einem eigenen Bereich wie einer Einliegerwohnung untergebracht sind, sondern Küche und Bad mit den Gastgebern teilen. "Das ist wie in jeder WG, manchmal nervt man sich halt", sagt Schott, "das sind so Soll-Bruchstellen."

Bisher ist es in den meisten Fällen gutgegangen, auch wenn organisatorisch noch vieles nicht so läuft, wie es sollte, wie Schott berichtet. Der Austausch von Daten, die Regeln für die Auszahlung der Sozialleistungen, hier holpert es seiner Ansicht nach noch gehörig, das System sei sehr improvisiert und fehleranfällig. Irgendwann wird sich das wahrscheinlich einspielen, doch dass sich die Situation insgesamt bald entspannt, damit rechnet Schott nicht. "Selbst wenn die irgendwann aufhören zu ballern, haben wir noch lange ein Problem", sagt er. Ein Waffenstillstand oder sogar einen Friedensvertrag würden ja nichts an der Tatsache ändern, dass viele gar keine Wohnung mehr haben, in die sie zurückkehren könnten.

Und so werden sich immer neue Baustellen auftun: Nach drei Monaten haben die Kinder der ukrainischen Geflüchteten Anspruch auf Schulbesuch, nach sechs Monaten gibt es einen Anspruch auf Kinderbetreuung. Wie das funktionieren soll in einem Gefüge, in dem Familien auch schon jetzt ein Jahr auf einen Betreuungsplatz warten, erschließt sich Schott momentan jedenfalls noch nicht.

© SZ vom 28.04.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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