Arbeiten mit Behinderung:"Wir müssen uns mehr beweisen als andere"

Lesezeit: 5 min

Für alle Schwierigkeiten am Arbeitsplatz gibt es eine Lösung: Benedikt Huber ist heute Informatiker. Auch Irene Schäfer sich mit viel Energie und Eigeninitiative hochgearbeitet - trotz fehlender Unterstützung. (Foto: Fotos: privat)

Wie ist es, fast blind und im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt zu sein? Dass sich hier in den vergangenen Jahren viel geändert hat, zeigen die Geschichten von zwei Menschen mit Sehbehinderung.

Von Franziska Langhammer, Ebersberg

Irene Schäfer ist seit Geburt an fast blind, sieht nur noch zehn Prozent. Auch eine Brille hilft nicht. Auf dem Land nahe Steinhöring aufgewachsen, besucht sie ab 1969 die Grundschule dort. "Das, was an der Tafel geschrieben stand, konnte ich nicht lesen", erzählt Irene Schäfer. "Ich musste halt schauen, wie ich mitkomme." Sie sitzt zwar immer in der ersten Reihe, doch das hilft ihr wenig. Hilfsmittel? Gibt es damals nicht. Einmal, in der vierten Klasse, erzählt sie, habe die Lehrerin alle Mitschüler aufgefordert, die Linien in ihrem Heft mit dickem Filzstift nachzuziehen, so dass sie besser lesbar waren.

Nach der Grundschule sagt der Lehrer zur Mutter, dass Irene es leistungsmäßig schon ins Gymnasium schaffen könne. Aber da würde halt niemand nach ihr schauen. Also kommt Irene Schäfer auf die Hauptschule, leistet danach ihr Berufsgrundschuljahr in Wasserburg ab.

SZ PlusHerausforderungen im Job
:Mit Tourette in der Arbeit

Wie geht es schwerbehinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt? Ein Gespräch mit Marilies Huber von der Arbeiterwohlfahrt über Hürden - und warum Corona für manche eine Chance sein könnte.

Interview von Franziska Langhammer

Ein früherer Sportkamerad vermittelt Irene Schäfer einige Zeit später schließlich eine Stelle in der Verwaltung beim Einrichtungsverbund Steinhöring. Vier Stunden am Tag arbeitet sie nun an der Pforte, erledigt anfangs einfache Arbeiten wie etwa den Speiseplan zu schreiben. Weil sie keine Ausbildung hat, ist der Lohn niedrig. "Mit der Zeit haben sich die Stunden erhöht und meine Tätigkeiten verändert", erzählt Schäfer. Anfangs gibt es noch keine Möglichkeit, Telefonanrufe durchzustellen. "Mein Vorteil war: Ich wusste viele Nummern auswendig", sagt sie. Ihre eingeschränkte Sehfähigkeit kompensiert sie mit Fleiß, steckt viel Energie in die Arbeit. Handgeschriebenes liest sie "mit der Nase", sagt sie; um die Buchstaben erkennen zu können, muss sie das Blatt ganz nah vor sich halten.

Maschinenschreiben hat sie in der Schule gelernt und mit einem Vierer abgeschlossen. "Danach hab ich zu meiner Lehrerin gesagt: Das ist nicht so schlimm, ich werde eh nie wieder an einer Schreibmaschine sitzen", sagt Irene Schäfer und lacht, weil sie mit ihrer Einschätzung so daneben lag.

Schäfer scheint selbst erstaunt, wie wenig Hilfe es früher gab

1994 lässt sie sich zum ersten Mal in die Mitarbeitervertretung wählen und wird bald die zweite Vorsitzende. Mit den 90ern kommen auch die ersten technischen Hilfsmittel, die Irene Schäfer in ihrer Arbeit unterstützen. Etwa eine Kamera an der elektrischen Schreibmaschine, die auf einem Bildschirm das Geschriebene vergrößert, oder später der erste PC.

Seit vielen Jahren arbeitet Schäfer nun Vollzeit in der Verwaltung des Einrichtungsverbunds Steinhöring und erfüllt nebenbei noch andere anspruchsvolle Aufgaben. Unter anderem ist sie als Vertrauensperson für die Mitarbeiter mit Schwerbehinderung zuständig sowie und in Vertretung für alle Vertrauenspersonen in der Katholischen Jugendfürsorge. "Ich musste mir das alles erarbeiten", sagt Irene Schäfer und scheint selbst erstaunt, wie wenig Hilfe es früher gab für Menschen mit Behinderung. Nächstes Jahr kann sie ihr 40-jähriges Dienstjubiläum feiern. Mittlerweile hat sie einen PC, dessen Bild negativ-positiv und daher für sie besser zu lesen ist: schwarzes Blatt, helle Schrift. Außerdem ist ihr Bildschirm auf einem Schwenkarm montiert, so dass man ihn bei Bedarf näher ziehen kann. "Manche Programme kann man nicht vergrößern", erklärt Irene Schäfer.

Newsletter abonnieren
:Mei Bayern-Newsletter

Alles Wichtige zur Landespolitik und Geschichten aus dem Freistaat - direkt in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.

Wie ihr berufliches Umfeld mit ihrer Sehbehinderung umgeht? Sie überlegt kurz. "Ganz selten sprechen mich neue Mitarbeiter an." Viele würden es gar nicht bemerken. Schäfer erzählt, dass sie vor kurzem eine Kollegin gebeten habe, das nächste Mal einen schwarzen Stift zu verwenden. Daraufhin habe die Kollegin nachgefragt: "Warum?" Sie habe es gar nicht glauben können, als Schäfer von ihrer Sehschwäche erzählte.

Empfindlich reagiere sie, sagt Schäfer, auf das Wort "barrierefrei": "Das heißt meistens rollstuhlfahrergerecht, und das bringt mir gar nix." Bei den Bahnhöfen etwa seien die Displays an den Ticketschaltern extra weiter nach unten verlegt worden, damit auch Rollstuhlfahrer sie bedienen könnten. Irene Schäfer hingegen kann dort nun nichts mehr lesen.

Auch im Gebäude ihrer Arbeitsstelle wird nach und nach einiges verbessert: Im Haus etwa werden große Schilder aufgestellt, wo sich die Toiletten befinden. Auf die Frage, warum es wichtig sei, Menschen mit Schwerbehinderung auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, fragt Irene Schäfer zurück: "Warum nicht? Nur wegen ihrer Behinderung sind sie keine anderen Menschen."

Er bekam eine Kamera, die er selbst steuern und auf die Tafel richten konnte

Wie viel sich dann doch in den vergangenen drei Jahrzehnten getan hat, gesellschaftlich wie auch technisch, zeigt die Biografie von Benedikt Huber. In vielem verlief sie diametral zu der Geschichte von Irene Huber. Der heute 26-Jährige hat ebenfalls eine Sehbehinderung. Auf Grund der erblich bedingten Optikusatrophie, einer degenerativen Erkrankung des Sehnervs, beträgt sein Sehvermögen etwa fünf Prozent. Im Kleinkindalter ist noch alles normal, in der ersten Klasse äußert die Lehrerin jedoch den Verdacht, dass der Junge nicht mehr alles mitbekommt.

"In der zweiten Klasse war es dann klar", erzählt Huber. Die Eltern versuchen daraufhin, eine Kamera für die Tafel und einen Bildschirm zu organisieren. "Das war damals noch teurer und schwierig, einen zu bekommen", erinnert Huber sich. Doch schließlich klappt es. Von nun an hat er eine Kamera am Tisch, die er selbst steuern und auf die Tafel richten kann. "Das war auf jeden Fall anfangs seltsam für mich", sagt Benedikt Huber. "Aber meine Mitschüler sind ganz gut damit umgegangen, und für mich war es enorm erleichternd." Was an der Tafel und in den Büchern steht, ist plötzlich lesbar für ihn.

Nach der Grundschule kommt Huber auf die Realschule nach Unterschleißheim, eine Einrichtung speziell für Sehbehinderte und Blinde, die aber auch von Normalsehenden besucht wird. Kleinere Klassen, extra geschulte Lehrer und mehr Zeit für die Prüfungen. "Man ist unter sich", schildert Huber diese Zeit. "Man muss sich nicht rechtfertigen oder erklären." Auch an den Noten sieht man, dass die veränderte Schulsituation ihm gut tut. Mit 16 macht Benedikt Huber die Mittlere Reife und entschließt sich, das Fachabitur dranzuhängen. Anschließend nimmt er ein Informatikstudium an der Hochschule Landshut auf, das er nach acht Semestern mit einem Bachelor abschließt.

"Danach habe ich erst mal fünf Monate lang versucht, einen Job zu finden", sagt Benedikt Huber. "Das hat nicht so ganz funktioniert." Schon bei der Auswahl der Unternehmen, bei denen eine Bewerbung für ihn in Frage kommt, wird es eng. "Mein größtes Problem ist der Arbeitsweg", sagt er. "Bei den S-Bahnen kann ich die Anzeige nicht lesen. Manchmal steige ich in die falsche Bahn und fahre dann in die falsche Richtung." Bei Bussen sei es noch schwieriger. Bei seiner Arbeitssuche versucht er also, die Distanz zwischen Arbeitgeber und Wohnung möglichst gering zu halten - was schon einmal die Hälfte der in Frage kommenden Stellen ausschließt.

Irgendwann will Huber seine eigene Firma gründen

"Und bei der Bewerbung war die erste Frage, ob ich meine Behinderung gleich erwähnen soll, oder erst im persönlichen Gespräch", erzählt er. Schließlich entscheidet er sich für die zweite Möglichkeit - "auch, weil man mir meine Sehschwäche nicht ansieht". Über Freunde kommt er schließlich auf das Startup Hynergy in Grasbrunn, das ihn sofort einstellt. Ein kleines Unternehmen, man kennt sich persönlich, auch die Tische sind grundsätzlich höhenverstellbar. Benedikt Huber startet mit 20 Stunden in der Woche. "Es gab keine Schwierigkeiten, die man nicht beseitigen konnte", sagt er. Wenn er etwas nicht lesen kann, bittet er Kollegen einfach, es für ihn vergrößert auszudrucken.

Seit einiger Zeit ist Huber nun selbständig, sein früherer Arbeitgeber Hynergy einer seiner Kunden. Irgendwann will er seine eigene Firma gründen. Auf seinem Weg zu den Kunden begleitet ihn derzeit ein Arbeitsassistent. "Ich werde abgeholt und zum Büro oder zu anderen Kunden gebracht", erzählt er. Vor allem, wenn er zu neuen Kunden muss, ist das eine große Hilfe.

"Oft bemerken neue Kunden meine Sehschwäche gar nicht", sagt Benedikt Huber. "Und wenn sie zur Sprache kommt, nehmen sie es nicht als Behinderung wahr." Obwohl er bisher kaum negative Erfahrungen in der Arbeitswelt gemacht hat, glaubt Huber, dass es Menschen mit Behinderung schwieriger haben auf dem ersten Arbeitsmarkt. "Wir müssen uns mehr beweisen als andere", sagt er. "Man hat den Druck, mit den anderen mitzuhalten - obwohl man eigentlich nicht schlechter ist."

© SZ vom 13.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusTödlicher Unfall
:"Mein Kind ist nicht mehr da"

Der neunjährige Louis ist mit seinen Großeltern unterwegs, als das Auto einer Studentin ungebremst in ihren Wagen kracht. Der Junge stirbt. Seit dem Unfall kämpfen die Eltern mit dem Verlust - und der Frage, ob bei den Ermittlungen geschlampt wurde.

Von Susi Wimmer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: