Demo für die EU:Warum Münchner zu "Pulse of Europe" gehen

"Mama, ich will da auch was sagen", sagte Carolin Fermum zu ihrer Mutter. Und dann stieg sie auf die Bühne der Demo. Neun Geschichten, in denen Münchner erzählen, warum die EU für sie unverzichtbar ist.

Protokolle von Michael Bremmer, Jean-Marie Magro und Martina Scherf

Zusammen stark sein

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(Foto: Florian Peljak)

Anne-Sophie Hoffmann, 25, Studentin: Ich komme aus einem Vorort von Luxemburg-Stadt. Wann ich das erste Mal außerhalb Luxemburgs war, das weiß ich nicht mehr. Unser Land ist so klein, wenn wir in den Urlaub fahren und sei es noch so nah, dann sind wir schon im europäischen Ausland. Doch ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals nach München zog. Sechs Jahre ist das nun her. Ich studiere hier Tiermedizin. Ich habe fünf Jahre gebraucht, um mich einzuleben, denn München ist eine Weltstadt, eine völlig andere Nummer als meine Herkunft. Mit der Sprache hatte das nichts zu tun. Wie alle Luxemburger bin ich mit drei Sprachen aufgewachsen: Luxemburgisch, Französisch und Deutsch - meine Lieblingssprache. Mittlerweile habe ich mich so an das Leben hier gewöhnt, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, in nächster Zeit woanders hinzuziehen. Als Luxemburgerin sind mir die Vorteile Europas sehr bewusst. Diese große Vielfalt an Sprachen, diese Vielzahl an Orten, wo man hinfahren kann, ohne sein Geld zu wechseln. Das ist ein Super-Luxus. Luxemburg würde in der Welt ohne Europa wohl kaum wahrgenommen werden. Man nehme die USA, Russland oder China - wer sollte unser kleines Land auf der internationalen Ebene schon ernst nehmen? Da geht es den Franzosen und den Deutschen schon anders, die würden auch ohne Europa stark sein. Aber erst zusammen, als ein solidarisches Europa, haben wir eine Stimme, die wirklich gehört wird.

Gemeinsam diskutieren

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(Foto: privat)

Akilnathan Logeswaran, 28, Unternehmensberater, engagiert sich unter anderem beim Think Tank 30, einer Jugendorganisation des Club of Rome: Ich bin Münchner, Bayer und begeisterter Europäer, das sind für mich keine Gegensätze, das geht doch wunderbar zusammen! Man sagt oft, die jungen Leute seien unpolitisch, aber das glaube ich überhaupt nicht. 2014 habe ich die deutsche Delegation für den European Youth Event im Straßburger Parlament geleitet. Die hatten mit 3000 Teilnehmern gerechnet, aber es hatten sich mehr als 10 000 aus allen europäischen Ländern angemeldet! Ich dachte: Wenn die jetzt alle nach Hause gehen und in ihren Städten und Dörfern über die europäische Idee reden, dann sind wir auf einem guten Weg. Genau das passiert jetzt mit "Pulse of Europe". Es wird ja nicht nur in den zwei Stunden am Sonntag diskutiert, sondern auch noch danach. Ich bin jeden Sonntag auf dem Max-Joseph-Platz und habe immer die Europaflagge dabei. Manchmal habe ich mein Gesicht angemalt. Wenn ich dann nach Hause radle, höre ich schon mal eine abfällige Bemerkung: Scheiß-Europa, was soll das? Dann bleibe ich stehen und diskutiere. Einmal habe ich einen jungen Mann gefragt: Was sagst du dazu, dass die EU die Roaminggebühren abgeschafft hat? Das wusste er gar nicht, es brachte ihn zum Nachdenken, und als ich ging, sah ich, dass er noch mit seinen Kumpels weiterdiskutiert hat. Wir müssen alle dafür kämpfen, Europa besser zu machen.

Vielfalt verteidigen

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(Foto: Florian Peljak)

Victoria Beyzer, 25, Studentin: Ich bin Russin und kam nach Deutschland, als ich neun Jahre alt war. Wir zogen damals nach Schwerin in ein Russenviertel. Die Leute sprachen Russisch, die Supermärkte waren russisch, selbst die Friseurläden waren russisch. Das erste Mal, als ich aus dieser Welt ausbrechen konnte, war während meiner Schulzeit. Ich besuchte eine Europäische Schule und wir unternahmen eine Friedensfahrt nach Griechenland. Dann organisierten wir zusammen Projekte mit dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und dem Bundestag. So interessierte ich mich mit der Zeit immer mehr für Politik. Vor vier Jahren bin ich nach München gezogen, um hier Wirtschaftsrecht zu studieren. Die Stadt hier ist aufgeschlossener als Schwerin, die Gesellschaft ist wesentlich heterogener, es gibt einfach ganz unterschiedliche Menschen. Diese vielen Kulturen, alle friedlich unter einem Dach, machen Europa für mich aus. Ganz banale Dinge wie drei Tage in den Urlaub nach Italien fahren, trotzdem mit der gleichen Währung zahlen, so etwas gibt es nur auf diesem Kontinent. Wenn ich da an meine Heimat denke, gehen mir ganz andere Gefühle durch den Kopf. Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit der Politik des Präsidenten Wladimir Putin. In Deutschland leben etliche Russlanddeutsche und Menschen aus postsowjetischen Staaten, die durch gezielte Desinformation vom Kreml gegen das europäische Projekt aufgehetzt werden. Dagegen verwehre ich mich und kämpfe ich.

Nach Amerika schauen

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(Foto: Florian Peljak)

John Friedmann, 45, Schauspieler (Erkan&Stefan, Die Wunderkinder), Schriftsteller und Mitglied des Organisationsteams der Münchner Sonntagsdemos: Die Frankreichwahl hat mich glücklich gemacht, denn sie hat bewiesen, dass sich die Bewegung für Europa lohnt und dass man als Einzelner tatsächlich etwas erreichen kann, wenn man sich mit anderen zusammenschließt. Deshalb werde ich mich auch weiterhin für "Pulse of Europe" engagieren, auch wenn die Organisation ganz schön viel Kraft kostet. Es freut mich, dass immer mehr Jüngere zu den Demos kommen. Ich selbst bin nicht erst jetzt Europa-Fan. Mein Vater lebt in den USA, und ich fühle mich dort jedes Mal als glühender Europäer, weil ich merke, dass die Freiheiten, die wir hier genießen, dort keineswegs selbstverständlich sind. Das fängt bei kleinen Dingen an wie der Mass Bier unter freiem Himmel oder dem Nacktbaden im Englischen Garten, was drüben undenkbar wäre. Und es wird besonders deutlich, wenn man versucht, in Florida eine vernünftige Tageszeitung zu bekommen. Es ist schwer, dort überhaupt an solide politische Informationen zu kommen. Auch das Wahlsystem ist ungerechter: Wenn du in Kalifornien republikanisch wählst oder in Texas demokratisch, dann ist deine Stimme wegen des Wahlmännersystems von vorneherein verschenkt. Überhaupt ist der politische, der gesellschaftliche und der private Diskurs dort viel eingeschränkter. Dann denke ich jedes Mal: Mensch, bin ich froh, Europäer zu sein.

Kreativität retten

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(Foto: Florian Peljak)

Jürgen Enninger, 48, Leiter des städtischen Kompetenzteams Kultur- und Kreativwirtschaft: Ich konnte über das Erasmus-Förderprogramm in den Niederlanden studieren - seitdem ist für mich die europäische Vielfalt selbstverständlicher Teil meines Lebens. Man lernt neue Menschen kennen, und jedes Mal öffnet sich eine neue Welt, die die eigene reflektiert. Natürlich wird auch bei mir im Freundeskreis kritisch über Europa diskutiert. Mir kommt es vor, als wurde die europäische Idee und all die damit verbundenen Vorteile als zu selbstverständlich wahrgenommen. Und plötzlich wird alles mit dem Brexit in Frage gestellt. Dabei ist doch global gesehen diese Zusammengehörigkeit das wichtigste Gut, das wir haben und unsere kulturelle Vielfalt und die gestalterische Stärke der kreativen Branchen der größte gemeinsame Exportartikel. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass nach 60 Jahren wieder diese Nationalismen erstarken, dass man wieder argumentieren muss, dass der Nationalstaat niemals stärker sein kann als die Gemeinschaft. Europa bringt die Mauern der Intoleranz, des Separatismus und der Ignoranz zum Einsturz. Um das auch in der Öffentlichkeit zu zeigen, ist die Pulse-of-Europe-Bewegung sehr wichtig. Nun müssen wir gemeinsam den nächsten Schritt erreichen. Was kann das nächste konkrete Ziel unserer Bewegung sein? Die europäische Staatsbürgerschaft und europäische Parteimitgliedschaften, schließlich eine europäische Öffentlichkeit!

Auf Großeltern hören

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(Foto: oh)

Michael Bully Herbig, Schauspieler und Regisseur: Es gibt viele Dinge in Europa, über die ich mich wundere, und manchmal frage ich mich auch: Was machen die da in Brüssel eigentlich die ganze Zeit? Die EU ist absolut nicht perfekt. Aber darum geht es doch nicht. Wenn ich in einem Restaurant mit dem Essen nicht zufrieden bin, dann sage ich vielleicht: Macht es beim nächsten Mal besser - oder wenn ich was davon verstehe, bringe ich vielleicht noch ein Rezept mit, wie man etwas verändern könnte. Aber ich käme doch nicht auf die Idee, das ganze Restaurant gleich in die Luft zu sprengen! Es geht hier um eine Haltung. Eine Selbstverständlichkeit, mit der wir in Europa bis jetzt in Frieden und Freiheit gelebt haben, scheint plötzlich zu bröckeln. Da können wir doch nicht einfach zuschauen! Meine Großeltern haben zwei Weltkriege erlebt. Sie haben mir oft diese Geschichten erzählt, als ich jung war, und ich dachte damals meistens: Ich kann es nicht mehr hören. Aber heute müssen diese Geschichten wieder erzählt werden. Und wenn mein kleiner Sohn mich später einmal fragt: Was hast du eigentlich damals gemacht, damit dieses Europa nicht zusammenbricht? Dann kann ich ihm sagen: Hey, ich bin auf dem Max-Joseph-Platz in München gestanden und hab' mal das Maul aufgemacht. Ich wünsche mir wirklich von Herzen, dass der Pulsschlag dieser Bewegung andauert und dass er noch höher geht. Dass wir richtig Bluthochdruck bekommen.

Gemeinsamkeit spüren

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Clara Mokry, 27, Politikwissenschaftlerin und Nachhaltigkeitsanalystin, Mitglied des Organisationsteams: Es gibt jeden Sonntag ein paar Gänsehaut-Momente - zum Beispiel, wenn alle gemeinsam die Hymne singen. Einmal haben wir eine Mauer aus Pappkartons gebaut, die hat die Menge geteilt und wurde hinterher wieder eingerissen. Das war nur ein Symbol, aber die Erleichterung war physisch zu spüren. Ich finde es schön, dass ich mich nicht für eine Identität entscheiden muss, sondern mich als Badenerin, Deutsche und Europäerin fühlen kann. Und wenn ich durch die Gassen von Neapel schlendere, dann spüre ich deutlich, dass wir trotz unterschiedlicher Sprache und Gewohnheiten ein gemeinsames Lebensgefühl teilen. Mittlerweile sind bei der Demo viele treue Fans dabei, aber auch jedes Mal neue Leute, die sagen: Hätte ich das gewusst, wäre ich schon früher gekommen. Sie bringen dann beim nächsten Mal Freunde mit. Es ist toll, wie viele Leute Ideen beisteuern, wir wollen ja keinen Frontalunterricht auf der Bühne machen, jeder soll etwas beitragen können. Auch von Politikern und Institutionen bekommen wir positive Rückmeldungen. Sie haben wieder den Mut, Stellung zur EU zu beziehen. Wir machen auf jeden Fall weiter und wollen in Zukunft noch andere Organisationsformen entwickeln. Unser Gästebuch mit den Wünschen und Gedanken der Teilnehmer geht jetzt übrigens auf Reisen, wir schicken es zuerst nach Warschau.

Sich informieren

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(Foto: privat)

Birgit Fermum, 45, mit Tochter Carolin, sie hoffen, dass sie eines Tages eine europäische Regierung erleben: Wir sprechen zu Hause viel über Politik, auch mit den Kindern. Vor allem meine ältere Tochter interessiert sich sehr dafür. Deshalb habe ich sie das erste Mal zur Demo vor der Oper mitgenommen. Da hat sie eine Weile zugehört und sagte dann plötzlich: Mama, ich will da auch was sagen. Sie ist dann auf die Bühne, nahm das Mikrofon und sagte in etwa: In einer Familie gibt es auch immer wieder mal Streit, aber man kann da doch nicht einfach davon laufen. Man muss sich dann eben zusammensetzen und darüber reden. Das stimmt, gerade jetzt muss man miteinander reden, anstatt zu resignieren. Die Bewegung "Pulse of Europe" erzeugt viel positive Energie, ich hoffe, dass wir damit auch den Politikern Rückenwind geben, damit sie für ein einheitliches Europa kämpfen. Der Binnenmarkt war damals eine gute Idee, aber da darf man nicht stehen bleiben. Wenn ich polnische Altenpflegerinnen sehe, die schlecht bezahlt in deutschen Familien schuften und dann noch das Waschmittel hier kaufen, weil es in Polen teurer ist, dann denke ich: Da läuft doch was schief. Es gibt noch viel zu kritisieren in Europa. Aber seit ich auf die Demo gehe, bin ich politischer, lese viel und hoffe sehr, dass wir eines Tages die nationalen Regierungen überwinden werden. Dann gehe ich als alte Frau mit meinem Rollator in die Wahlkabine und wähle eine europäische Präsidentin.

Auf dem Spielfeld streiten

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(Foto: Florian Peljak)

Karim Koudèche, 44, Geschäftsführer von "The 4You Hostel Munich": Ein Grund, für Europa zu sein? Als Franzose nenne ich einfach nur die Jahreszahlen 1871, 1914 und 1939. Immer wieder haben Deutsche und Franzosen sich bekriegt. Seit Beginn des europäischen Projekts - also seit mehr als 70 Jahren - leben wir gemeinsam in Frieden. Die einzige schlechte Erinnerung, die ich aus dieser großartigen Periode habe, ist das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft 1982, als Deutschland ungerechterweise durch ein brutales Foul des Torwarts Toni Schumacher an Patrick Battiston ins Finale einzog. Verglichen mit den anderen Jahreszahlen ist das leicht zu verschmerzen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, was ein Ausstieg aus der EU zu bedeuten hätte. In meiner Arbeit beschäftige ich Leute aus verschiedenen europäischen Ländern: Portugal, Griechenland, Frankreich ... Sie alle sprechen mindestens drei Sprachen, ich fünf. Zu uns kommen Gäste aus der ganzen Welt. Doch auch innerhalb der EU ist nicht alles perfekt. Es gibt zu viele Ungleichheiten zwischen den Ländern. Wir sind zu schnell gewachsen, 28 Länder sind bei einem Projekt von so großer Komplexität zu viele. Mit Macron als Präsident kommt hoffentlich ein neuer Wind in die Diskussion um die politische Integration. Denn die Zukunft ist auf jeden Fall europäisch: Meine 13-jährige Tochter besucht hier die Französische Schule, mein siebenjähriger Sohn hat eine italienische Mutter, also schon drei europäische Nationalitäten.

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