Markt Indersdorf:Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

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Hier erzählt Bergeron (links), die mittlerweile in den USA lebt, an der Seite einer Übersetzerin über ihre Vergangenheit. (Foto: Toni Heigl)

Die 75-jährige Myrian Bergeron wusste lange nicht, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Kloster lebte. Die Nationalsozialisten hatten sie als Kleinkind von ihrer Mutter getrennt.

Von Anna-Elisa Jakob, Markt Indersdorf

Plötzlich formten sich die rätselhaften Einzelteile ihrer Lebensgeschichte zu einem Bild. Myrian Bergeron, Tochter einer estnischen Zwangsarbeiterin, geboren 1943, spürte schon immer, dass sie und ihre Mutter etwas verband, das sie sich lange nicht erklären konnte. "Wir hatten diese Traurigkeit zwischen uns, über die sie nicht reden wollte", erzählt Myrian Bergeron den vielen Zuhörern im Musiksaal der Vinzenz-von-Paul-Realschule. Sie erinnert sich an eine Zeit, in der sie nachts häufig weinte - und ihrer Mutter nie erklären konnte, wieso. Heute ist Myrian Bergeron 75, selbst Mutter von neun Kindern, sieben adoptierte sie als Alleinerziehende in den USA. Sie machte die Familie zu ihrer Lebensaufgabe - und nach langer Suche zu den eigenen Wurzeln erkennt sie den unbewussten Zusammenhang zwischen ihrer Vergangenheit und dieser Lebensentscheidung.

Die Reise zu ihren Wurzeln und damit auch in das Kloster Indersdorf begann für Myrian Bergeron 2003, vier Jahre nach dem Tod ihrer Mutter Alma Pass. In ihren Papieren fand sie ein Foto von sich: ein vielleicht zwei Jahre altes Kind, mit großen, dunklen Augen und einem traurigen Mund, in den Händen ein Schild mit der Aufschrift "Pass Marjanna". Heute weiß sie, dass dieses Bild im Kloster Indersdorf aufgenommen wurde, in das sie nach dem Zweiten Weltkrieg gebracht und in dessen UNRRA-Kinderzentrum sie damals von Nonnen und Helferinnen versorgt wurde.

Sie fand heraus, dass dieses Foto von ihr im Holocaust Museum in Washington ausgestellt ist, recherchierte, fand im Internet das Buch "Zurück ins Leben" von Anna Andlauer, das über die internationalen DP-Kinderzentren im Kloster Indersdorf berichtet. Myrian Bergeron nahm Kontakt mit der Autorin auf, schon bald forschten sie gemeinsam an ihrer Lebensgeschichte - die sie heute sogar mit Fotos, Videos, Briefen und Anekdoten für das Publikum schmücken kann.

Direkt nach ihrer Geburt brachte Alma Pass ihre Tochter in das Herz-Jesu-Heim in Gauting. Sie selbst arbeitete als Zwangsarbeiterin für den Gummi- und Reifenhersteller Metzeler in München. Über ihren Vater weiß Myrian Bergeron nicht viel, er kam wohl aus Serbien, konnte ihre Mutter finanziell unterstützen, als sie später verhaftet wurde, bezahlte er ihren Anwalt. Heiraten durften die beiden nicht - "das war Zwangsarbeitern während dem Krieg verboten", erklärt Anna Andlauer. Nach dem Krieg wurde Alma Pass von den Amerikanern befreit, schwer krank in ein Camp für "displaced persons" gebracht. Ihre Tochter konnte sie erst 1947 aus einem Kinderheim in Prien am Chiemsee abholen, Myrian Bergeron war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt.

Von dem Jahr, das sie im Kloster Indersdorf verbrachte, weiß die heute 75-jährige nicht viel. Sie erinnert sich, die Gänge hinuntergelaufen zu sein, an eine verschlossene Tür, an Blumenkränze im Haar. Doch die erste Begegnung mit ihrer Mutter hat sie noch klar vor Augen, diese holte sie gemeinsam mit Bergerons späterem Adoptivvater in Prien ab. "Ich näherte mich ihr nicht, sondern baute sofort eine enge Beziehung zu meinem Adoptivvater auf, einem amerikanischen Soldaten", erzählt Bergeron. Die Familie zog gemeinsam in die USA, Alma Pass sprach von nun an nur noch Englisch mit ihrer Tochter, - und diese nannte sie nicht mehr "Mutter", sondern "mom", als Teenager "mother". Ihr Verhältnis sollte nie leicht werden, die ungeklärte Vergangenheit stets zwischen ihnen liegen.

Myrian Bergeron liest einen Brief vor, den sie an ihre verstorbene Mutter geschrieben hatte, nachdem sich aus den Bruchstücken ihrer Vergangenheit langsam eine Geschichte ergab. Mittlerweile hatte sie erfahren, dass ihre Mutter als Zwangsarbeiterin von Estland nach München gebracht wurde, dass sie sich kurz nach der Geburt von ihrer Tochter trennen musste, kurz darauf von der Gestapo verhört und in zwei deutschen Gefängnissen festgehalten wurde, nach dem Krieg an Tuberkulose litt. "In diesem Moment brach mein Herz für dich", schreibt Myrian Bergeron. Lange hätte sie nicht verstanden, warum ihre Mutter nicht über ihre Vergangenheit in Deutschland und ihren Vater reden wollte. Warum sie ihr damit auch den Zugang zu ihren eigenen Wurzeln verschloss. Das ist nun anders: "Wie sollte man solche Erfahrungen dem eigenen Kind erzählen?"

Am Ende singt das Publikum zwei der Schlaflieder für Myrian Bergeron, mit denen sie Erzählungen nach die Nonnen im Kloster Indersdorf damals regelmäßig in den Schlaf wiegten. Bergerons Tochter Wendy, die den ganzen Abend neben ihrer Mutter sitzt, steht nun auf und filmt die Szene. Es ist ein bewegender Moment, Myrian Bergeron wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Kurz vorher hatte sie erklärt, warum sie heute Abend nach Indersdorf gekommen sei: "Geschichten wie diese beeinflussten Familien für mehrere Generationen. Sie müssen wissen, was damals passiert ist." Ihre Tochter bricht das Filmen ab, umarmt ihre Mutter. Weil sie diese bewegende Situation mit ihr teilen möchte. Und vielleicht, weil auch sie an diesem Abend ein Puzzleteil ihrer Lebensgeschichte entdeckte.

© SZ vom 18.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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