"In allen Zügen fahre ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung", schreibt Helga Schubert in ihrem Buch "Vom Aufstehen - ein Leben in Geschichten". Die Landschaft lässt sie lieber im Rückblick an sich vorüberziehen anstatt sich ihr entgegen zu stemmen. So reist sie nicht nur, so lebt sie auch. Zehn Stunden saß die 81-Jährige gerade in der Bahn, um von ihrem Haus im kleinen mecklenburgischen Ort Neu Meteln bis nach Dachau zu gelangen, für die letzte Lesung des Literaturfestivals "Dachau liest". Doch anstatt sich auszuruhen, will Schubert als Erstes die Gedenkstätte besuchen, die sie einmal umrundet auf der Suche nach dem Kloster Karmel Heilig Blut. Die Nonnen hätten sie einst stark beeindruckt, erzählt sie der SZ vor der Lesung, "weil sie auch für die Täter beteten". Erinnern und Versöhnen sind die Lebensthemen, für die Helga Schubert sich gern verausgabt.
"Es war ja so", sind die ersten Worte, die die Schriftstellerin später auf der Bühne des Ludwig-Thoma-Hauses sagt. Es klingt wie der Beginn eines Märchens und doch kommt ihre Erzählung ohne Moral aus. Sie beschreibt, wie sie schon 1980 zum Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen wurde, ihr die DDR-Führung eine Teilnahme am Literaturwettbewerb aber untersagte. Dass sie den Preis nun vierzig Jahre später doch noch gewonnen hat, gehört zu den vielen wundersamen Wendungen im Leben der ostdeutschen Frau, die man mit ihrer Präzision und Lakonie nur als Ausnahmeautorin beschreiben kann.
Schubert beginnt ihre Lesung, genau wie ihren Erzählungsband, mit der Schilderung der Geborgenheit spendenden Sommerferien bei ihrer Großmutter, wie sie dort in der Hängematte lag, las und Zuversicht sammelte. Vor beinahe ausverkauftem Saal mit rund 100 Gästen spricht Schubert mit Moderatorin und Literaturkritikerin Beate Tröger, die klug und aufmerksam durch den Abend führt. In dem Bestseller, der 2021 auch noch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, hält Schubert Rückschau auf die schwierige Beziehung zu ihrer eigenen Mutter und das Leben als Schreibende unter dem SED-Regime - und findet Versöhnung mit beidem. Jahrzehntelang hat sie in der DDR gegen Windmühlen gekämpft, nennt "Schriftsteller die wirklichen Störenfriede in der DDR". Dass sie nun spät im Leben so viel Anerkennung erfährt, scheint sie selbst am meisten zu überraschen. Helga Schubert kokettiert nicht, wenn sie über ihren Erfolg staunt. "Am Anfang dachte ich, es war Mitleid, dass ich den Bachmann-Preis gewonnen habe. Vielleicht dachten die alle, beim nächsten Mal lebt die Schubert nicht mehr", erzählt sie dem Dachauer Publikum. Als die Autorin Eva Menasse Schuberts Buch als Schullektüre empfahl, "da habe ich mein Gläschen Wein noch viel lieber getrunken".
Lebendig lesend und nonchalant erzählend nimmt sie das Publikum mit durch "ein Jahrhundertleben", wie es auch im Klappentext heißt. Dass die doppelte Diktaturerfahrung der 1940 in Berlin Geborenen ihr reichlich Stoff zum Schreiben mitgegeben habe, bemerkt sie frei von Selbstmitleid. Schnörkellos, glasklar und präzise beschreibt Schubert ihre Vergangenheit. "Bei mir ist alles im Übermaß da; Geschichten, Bilder, Gedanken und Schicksale. Ich kann mein Schreiben eigentlich nur mit der Herstellung von Grappa vergleichen", sagt sie halb lachend, halb ernst: "Was ich mache, ist Keltern."
Nach dem Psychologiestudium hat Schubert 23 Jahre lang als Psychotherapeutin gearbeitet, unter anderem in der Nervenklinik der Berliner Charité und in Beratungsstellen. Das Schreiben und die therapeutische Arbeit hätten sich gegenseitig stark befruchtet, auch wenn es stets zwei grundverschiedene Tätigkeiten gewesen seien. "Ich habe immer Angst gehabt, mich selbst in Therapie zu begeben - sonst wäre es vielleicht vorbei gewesen mit dem Schreiben." Gleichzeitig habe sie durch ihre therapeutische Arbeit zahlreiche Geschichten aus der DDR gehört: "Viele Menschen dort schämen sich, dass sie da geblieben sind, dass sie den Mund nicht aufgemacht haben."
Dass der Stasi-Staat auch sie überwachte, wunderte sie dennoch, als sie später ihre Akte einforderte. "Ich dachte, ich wäre vorsichtig gewesen", sagt Schubert und erzählt von dem illegalen Kopiergerät in ihrem Haus und den Briefumschlägen aus dem Westen, an denen "das Gummierte immer krümelig war", die also geöffnet worden waren. "In einer Diktatur ist man als Spottesel nicht gern gesehen", sagt die 81-Jährige: "Ich habe oft geträumt, man kommt ins Gefängnis. Aber dann habe ich es doch nie für möglich gehalten."
Es sind die Begriffe zwischen den Zeilen, die ihre Herkunft und auch ihre Verschiedenheit vom Dachauer Publikum verraten. Sie spricht von einer "Tasse Muckefuck" statt Kaffee und erzählt, wie sie einst ein "geplättetes Nicki", ein T-Shirt also, bekommen habe. Über das Bezahlen mit Westdevisen sagt sie: "Ich habe mir eins zu sechs Strumpfhosen gekauft." So ist sie auch sprachlich Zeugin einer untergegangenen Welt, aus der sie nicht zuletzt der Glauben rette.
An der Dachauer Friedenskirche hatte Moderatorin Beate Tröger just das Albert-Schweitzer-Zitat entdeckt, das Schubert so viel bedeutet: "Das Wenige, das du tun kannst, ist viel", steht dort. Wo ihr Glaube herkomme, fragt Tröger die Schreibende. "Ich suchte immer Wärme", sagt Schubert. Eine Freundin nahm sie einst mit zum Kindergottesdienst, "eine unglaubliche Wärme, die ich da bekomme". Doch nicht nur das, nein, auch die Relativierung der Macht habe sie zur Kirche gezogen. Zum Schluss adressiert Schubert das Publikum direkt: "Sie sind hier im Westen ja anders groß geworden. In der DDR brauchte man Mut, um der Kirche beizutreten, konnte damit sogar seinen Studienplatz riskieren." Als eine Fragende aus dem Publikum wissen will, ob "es möglich ist, sich mit der Vergangenheit auszusöhnen", muss Helga Schubert darauf gar nicht mit Ja oder Nein reagieren. Sie hat ihre Antwort gefunden.