Kunst im Wasserturm:Die Einsamkeit der Vorstädte

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Der Münchner Künstler Kai Ulrich Liedtke vor dem winterlichen Gemälde einer Straße aus seiner Wohngegend in München: "-4 Grad". (Foto: Toni Heigl)

Kai Ulrich Liedtke verarbeitet flüchtige Momentaufnahmen zu Gemälden. Angesiedelt sind seine oftmals dramatisch inszenierten Bilder an Orten, die normalerweise kaum wahrgenommen werden.

Von Gregor Schiegl, Dachau

An den Unterzügen im zweiten Stock des Dachauer Wasserturms kann man sich leicht den Kopf stoßen. Jedenfalls, wenn man so groß ist wie Kai Ulrich Liedtke. Der Münchner Künstler hat für die Besucher seiner Ausstellung gleich mal einen Warnhinweis angebracht nebst der Bemerkung, dass beim Bau des Gebäudes aus dem Jahr 1910 offenbar niemand daran gedacht habe, dass es Menschen gibt, die größer als 1,85 Meter sind.

Kai Ulrich Liedtke ist Experte für gebaute Lebensräume, Architekt, bekennender Stadtmensch, die Stadt ist zentrales Thema seiner "Momentmalerei", wie er sie nennt. Wenn er unterwegs ist, zu Fuß, im Zug oder im Auto, hält er mit einer alten Handy-Kamera drauf, knipst, was andere gar nicht mehr wahrnehmen, weil es ihnen so alltäglich und banal erscheint: Leitplanken, Werbeschilder, das Liniengewirr von Oberleitungen, Trabantenstädte, Gewerbegebiete, Bürohochhäuser, in denen auch spätabends immer noch die Lichter brennen.

Welches Motiv später zum Bild wird, weiß er in der Regel selber nicht, oft schlummern die Fotos jahrelang in der Versenkung. Wenn er sie wieder herauskramt, um sie zu malen, weiß er manchmal nicht mal mehr, wo die Aufnahme entstanden ist. Ist auch egal, sie könnten überall sein, diese Orte oder besser gesagt "Nicht-Orte", denn sie bleiben ohne Identität, ohne Geschichte, ohne erkennbaren Bezug zur Umwelt. Man kann an ihnen vorbeifahren, und im nächsten Augenblick sind sie schon wieder vergessen.

Menschen sieht man kaum, nur Lichter

Dass Liedtkes Gemälde trotzdem nicht trivial erscheinen, liegt daran, wie er diese rationalen kargen Glas- und Betonlandschaften in sehnsüchtig glimmendes Abendlicht taucht. Dem Himmel gibt Liedtke sehr viel Raum, manchmal Dreiviertel der Leinwand, so malen Romantiker Landschaften unter Wolkengebirgen. Das Resultat ist bei Liedtke aber keine Idylle, sondern ein Gefühl der Verlorenheit. Während sich eine grenzenlose Weite nach oben eröffnet, brütet in den stillen Bürowaben die Einsamkeit. Menschen sieht man auf den Bildern selten, ihre Anwesenheit erahnt man nur als Lichtschimmer hinter Fenstern und verschlossenen Gardinen.

Eine Straße seiner Wohngegend in München hat der Künstler bei eisigen "-4 Grad" gemalt, ein einsames Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern bahnt sich seinen Weg. Wo kommt es her, wo fährt es hin? Kommt jemand zu Besuch, kommt jemand heim? Oder hat sich da bloß einer verfahren? Die Bilder geben darauf keine Antworten, sie sind sowohl Darstellung als auch Projektionsfläche. Das gibt ihnen erst die Tiefe, das macht sie so berührend.

Abendruhe über einer unruhigen Stadt: "Fahrleitung" mit Baukränen im Hintergrund. (Foto: Toni Heigl)
Die technischen Konstruktionen des Menschen findet man auch auf freiem Feld. (Foto: Toni Heigl)
Die maritime Stimmung am "Flugfeld Tempelhof" hat mit dem Untergrund zu tun. Anders als eine Leinwand wirft das bemalte Lärmschutzpaneel Wellen. (Foto: Toni Heigl)
"Kondensstreifen" begleitet vom massiven Auftritt eines mehrstöckigen Gebäudes. (Foto: Toni Heigl)
"Vor der Beleuchtung". Lichtstimmungen spielen in Liedtkes Gemälden eine wichtige Rolle. (Foto: Toni Heigl)
"1972 Las Vegas". Vor dem Bild war noch ein Stellplatz frei. (Foto: Toni Heigl)

Zum Entree der Ausstellung zeigt Liedtke Aquarelle von Personen, einzeln oder in Gruppen, meist von hinten. Sie betrachten etwas, das irgendwo jenseits der leeren Bildfläche liegt. Künstlerisch können diese Frühwerke nicht ganz überzeugen, dafür bieten sie eine Art Bedienungsanleitung für den Besuch dieser Ausstellung: Liedtkes Bilder sind sowohl Darstellung als auch Projektionsfläche, man muss in sie eintauchen. In einige Werken versucht er, seine Szenen im Stile des Magischen Realismus zu überhöhen: Im Vorgarten des Einfamilienhauses flattern dann kunterbunte Kleider vor einem himmelblauen Firmament, von rechts äugt ein Mercedes 123 in Mimosengelb bedeutungsvoll ins Bild. Symbolismus mit Wäschespinne.

Landschaftsbilder sind auch zu sehen, Impressionen aus zart aquarellierten Farbverläufen. Allerdings sieht man ebenso oft nüchtern gemalte Nutzflächen im Freien, eine Nadelbaum-Monokultur mit Weidezaun, ein Kornfeld mit Bewässerungsanlage. Gebaute Natur. Manchmal verbinden sich Stadtszenerie und Landschaft auch. Ein großformatiges Gemälde zeigt den Ausblick durch die Scheibe des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof bei Nacht. Überrascht habe ihn, sagt Liedtke, bei seinem Besuch die Stille an diesem einst so lärmenden Ort. Sinnigerweise hat er die allein durch ihre Lichter sichtbare Stadtlandschaft auf ein Schallschutzpaneel gemalt.

Einige Stilmerkmale dieser Ausstellung erinnern an die moderne Malerei der USA: der kühle Realismus, vor allem aber die kühnen Bildschnitte, die aus Kino und Werbung in die Kunst schwappten. Und die einsam in der Nacht leuchtende Tankstelle vor einem leeren Großparkplatz sieht bei Liedtke so melancholisch aus, als hätte Edward Hoppers "Nighthawks" hier noch einen Zwischenstopp eingelegt, um Zigaretten zu holen, nachdem die letzte Bar schon lange geschlossen hat.

Süßer Wohnen

Die Ausstellung hat auch ihre komischen Seiten, sie sind sogar das Erste, was man zu sehen bekommt. Im Treppenaufgang dieses an Treppen mehr als reichen Ausstellungsortes bevölkern winzige weiße Plastikfiguren avantgardistische architektonische Objekte aus Epoxidharz. In 15 kreisrunden, schalenförmigen Becken mit unterschiedlichen Füllständen stehen 15 Badende. Design und Konstruktion dieser innovativen Pool-Landschaft dürfte Liebhabern von Karamell mit Schokolade und Haselnuss bekannt vorkommen. Gebadet wird hier im weiß umlackierten Inlay einer Toffifee-Verpackung.

"Augenblick, mal!", Ausstellung von Kai Ulrich Liedtke im Dachauer Wasserturm. Öffnungszeiten: Freitag 17 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag 15 bis 20 Uhr. Zu sehen bis 21. April.

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