Durch die Menschenmenge hindurch bahnt sich Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) am Samstagabend einen Weg bis zum Todesmarschmahnmal an der Theodor-Heuss-Straße. Andächtig legt er den großen Blumenkranz am Fuße der Statue nieder, tritt zurück, faltet die Hände, senkt den Blick.
Über 150 Menschen sind zu der Gedenkfeier gekommen, um derer zu gedenken, die von den Nationalsozialisten kurz vor Ende des Krieges auf den Todesmarsch geschickt wurden. Am 26. April 1945 wurde das Konzentrationslager in Dachau geräumt und die Häftlinge, auch aus den Außenlagern in Kaufering und Allach, bei Schnee und Frost Richtung Alpen getrieben. Die geschundenen und ausgemergelten Gefangenen schleppten sich die knapp 90 Kilometer durch das Würmtal, über Starnberg bis nach Waakirchen.
Anders als vor 78 Jahren herrschen am vergangenen Samstagabend warme Frühlingstemperaturen. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Die Anwesenden unterhalten sich, lautes Stimmengewirr von Jung und Alt in verschiedenen Sprachen ist zu hören. Erst als Florian Hartmann den Kranz niederlegt und anschließend seine Rede beginnt, wird die Stimmung ernst. Was könne man besser machen, um aus der Geschichte zu lernen, fragt er. Es sei wichtig, auch in Alltagssituationen allen Formen von Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus entgegenzutreten. Das Wichtigste sei jedoch nicht wegzuschauen. "Dass wir uns unsere Empathie bewahren, dass wir solidarisch mit unseren Mitmenschen sind."
Bäume erinnern sich an den Todesmarsch
Abba Naor, der Todesmarsch- und KZ-Überlebende und Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, lässt auch in diesem Jahr an seiner Erinnerung teilhaben. "Jedes Jahr muss ich irgendwas sagen", beginnt er seine Rede. Ein Satz, der im Publikum für Lachen sorgt. Eigentlich habe er alles gesagt, für ihn sei es ein Abschied nehmen: "Jetzt bin ich 95 Jahre alt, eines Tages muss es ja aufhören." Doch als er mit tiefer, melodischer Stimme anfängt, seine Geschichte zu erzählen, hängen die Anwesenden an seinen Lippen. Abba Naor ist ein bekanntes Gesicht in Dachau, immer wieder erzählt er hier von den Gräueltaten der NS-Zeit, die ihm widerfahren sind. Und dennoch, während seiner kurzen Rede, wischt sich der eine oder andere eine Träne aus den Augen.
Die längste Rede des Abends hält Carmen Lange, Leiterin der Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald. Sie ist den weiten Weg angereist, um mahnende Worte an die Anwesenden zu richten. Mit kräftiger, lauter Stimme erzählt sie von den 33 000 Gefangenen im Konzentrationslager in Sachsenhausen Oranienburg, die am 21. April 1945 auf den Todesmarsch Richtung Nordwesten getrieben wurden. Von deren Überlebenskampf seien heute noch immer Spuren im Belower Wald zu sehen, berichtet sie. "Wir haben Kiefern, an denen großflächig die Rinde fehlt, weil die Menschen in ihrer Verzweiflung versucht haben, sich von ihr zu ernähren."
Dass Carmen Lange mit Leib und Seele für die Erinnerung der Opfer kämpft, ist für die Anwesenden nicht zu übersehen. Mehrfach bricht ihre Stimme und sie kämpft mit den Tränen. Die Todesmärsche seien unter den Augen der Bevölkerung passiert, ermahnt sie.
Seit 2004 leitet Carmen Lange die Gedenkstätte im Belower Wald, hat in den fast 20 Jahren mit vielen Überlebenden gesprochen, wie sie sagt. Heute will sie vor allem an die Zivilcourage appellieren. "Wir gedenken heute der Opfer der Todesmärsche. Wir gedenken auch des Leids der Überlebenden und wir bedenken die Schuld der Zuschauer und Zuschauerinnen, die die Verbrecher gewähren ließen. Wir bedenken unsere Verantwortung heute." Verantwortung bedeute für sie auch, stetig an die Geschichte zu erinnern - das hätten die Menschen, die Opfer und die Angehörigen verdient, erzählt sie im Anschluss an die Gedenkfeier. "Wenn einer den Mut hat, sich anders zu verhalten, dann schließen sich auch andere an - das ist etwas, was wir auch heute noch lernen müssen. Zivilcourage heißt aufzustehen, auch wenn ich nicht sicher bin, wie die anderen sich verhalten."
Die Arbeit gegen das Vergessen: "Um sich zu erinnern, muss man erst lernen"
Abschließend ergreift Sara Brunner das Wort. Die junge US-Amerikanerin ist seit September vergangenen Jahres in Dachau. Als Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist sie an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau tätig. Als US-Amerikanerin habe sie in der Schule vor allem von Anne Frank und Auschwitz gehört. Brunner führt mehrmals die Woche Jugendliche über das Gelände der Gedenkstätte. Sie hoffe, dass das, was die Menschen dort lernen würden, ihre Neugier wecke, mehr zu lernen und dieses Wissen mit anderen zu teilen, um sich so an die Seite der Unterdrückten zu stellen. "So kann aus dem Lernen und Erinnern die Kraft erwachsen, gegen die Ungerechtigkeiten in der heutigen Welt zu kämpfen."