Neuer Krimi aus Dachau:Erzählen kann man viel

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Dem "verborgenen Gast" in Michael Böhms neuem Roman ist nicht zu trauen, aber da ist er nicht der Einzige. Der Dachauer Autor nutzt den Krimi für ein literarisches Verwirrspiel.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Literarische Figuren führen ein Eigenleben, das hört man von Schriftstellern immer wieder. Manche dieser Figuren scheinen von großem Geltungsbedürfnis getrieben zu sein. Bekanntschaft mit so einem Exemplar hat auch der Dachauer Krimiautor Michael Böhm gemacht. Zuerst tauchte die Figur in einer seiner Kurzgeschichten auf. "Diesem eigenartigen Mann wollte das nicht reichen", erzählt Böhm in einem Werkstattbericht, "er forderte mehr. Ich gab ihm nach und schrieb weitere Geschichten mit diesem sich als immer schwieriger herausstellenden Charakter." Am Ende bekam er die Hauptrolle in Böhms neuem Kriminalroman mit dem Titel "Der verborgene Gast".

Dass es sich bei diesem "Gast", einem erfolgreichen Schriftsteller und Drehbuchautor, um ein menschliches Ungeheuer handelt, daran lässt schon der Name keinen Zweifel: Der Mann heißt Heimo Drache. Warum seine Frauenbekanntschaften immer mit einem tödlichen Genickbruch enden müssen, erklärt dies freilich nicht und auch nicht, warum nur seine Geliebte Pia, bei der er sich als "verborgener Gast" eingenistet hat, um sein "Opus magnum" endlich fertigzustellen, seine Mordlust neutralisieren kann. "Mit dem schwebenden Duft von Pia um mich herum ist es leicht, Depression und die in der Tiefe lauernde Aggression unter Kontrolle zu halten, sie so weit zu bändigen, dass sie mich kaum stören", erzählt der Täter.

Kommissar Roth ist ein Mann von entwaffnender Freundlichkeit

In einem klassischen Whodunnit-Krimi wäre so ein Spoiler unverzeihlich, aber die Frage "Wer war's?" ist hier gar nicht die entscheidende, Böhm hätte die Antwort sonst selbst wohl kaum schon im ersten Kapitel verraten. Viel interessanter ist die Frage, was einen erfolgreichen Schriftsteller zu solchen Mordtaten treibt, welche Rolle Pia in seinem Leben wirklich spielt, warum Ringelnatz-Verse seine Lektorin in letzter Sekunde vor einem gewaltsamen Tod bewahren und wie der ermittelnde Kriminalhauptkommissar Roth, ein bayerischer Beamter von entwaffnender Freundlichkeit und unerschütterlicher Seelenruhe, ihn am Ende all seiner Taten überführt.

Erzählt wird die Geschichte in zwei alternierenden Handlungssträngen: hier Drache, dort sein Jäger, "KHK Roth", der ihm schnell auf die Schliche kommt. Aber wie das so ist: Man braucht auch Beweise, und während Roth fleißig ermittelt, Akten und Bücher wälzt, kämpft Drache mit seinen eigenen Dämonen, die sich als Schreibblockade manifestieren. Mit seiner großen Erzählung "Ich bin Theseus" kommt er nicht recht weiter, die Wörter entgleiten ihm, er ringt mit Ausdrücken, um am nächsten Tag wieder ganz von vorne zu beginnen und in "Wortgebilden" herumzustochern, mehr textender Sisyphos als tatkräftiger Theseus. Gleichzeitig erinnert er sich seiner ermordeten Opfer und erzählt seine Geschichte, wie es zu den Taten kam. Aber man darf ihm nicht alles glauben, erzählen kann man viel.

Die trügerische Kraft des Wortes nutzt auch Böhm. Der Autor hat sichtlich Spaß daran, Fallstricke und falsche Fährten zu legen und das gleich auf mehreren Ebenen. "Einmal war er für den Friedrich Glauser-Preis nominiert worden, hatte damit den Ritterschlag sogar von der Krimiszene erhalten", staunt Kriminalhauptkommissar Roth über den verdächtigen Heimo Drache. Auch wenn Michael Böhm kein langes Haar unter der Korkkappe hat, ist die kokette Anspielung auf seine eigene Vita kaum zu übersehen. Böhms Roman "Herr Petermanns unbedingter Wunsch nach Ruhe" wurde 2014 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert; zwei Jahre später bekam er ihn dann auch tatsächlich, für den Nachfolgeband "Herr Petermann und das Triptychon des Todes".

Auch Herr Petermann taucht in dem Roman kurz auf

Dass sich Heimo Drache in seiner Schreibklause auch mit dem "Verständnis der Gaußschen Mathematik" auseinandergesetzt hat, löst bei Roth Erstaunen aus. Böhms Fan-Gemeinde dürfte diese Pointe sofort verstehen. In Böhms letztem Krimi "Die zornigen Augen der Wahrheit", erschienen 2020, spielt ein Mathematiker die Hauptrolle, Spitzname: Gauß. Böhm fordert so den Verdacht geradezu heraus, bei Drache könnte es sich um eine Art finsteres Alter Ego seiner selbst handeln. Ein bisschen eitel sind sie ja beide, Drache wie Böhm. Aber so einfach ist die Sache nicht. Das Zwielichtige und Zweifelhafte der Identität ist auch das verborgene Thema dieser Geschichte.

Im Gewande eines Kriminalromans entspinnt Böhm ein literarisches Verwirrspiel um die Macht der Fiktion und die Schichtungen der Wirklichkeiten. Viele seiner früheren Romanfiguren aus anderen Büchern tauchen am Rande der Geschichte wieder auf, etwa der Fotograf Sixtus Adlmeier; auch Böhms populärste Figur, Herr Petermann, erscheint beiläufig in einem Nebensatz, so wie Alfred Hitchcock, der in seinen eigenen Filmen auch gerne mal im Hintergrund unauffällig durch die Kulissen spaziert. Man kann nicht nur die Wirklichkeit brechen, sondern auch die Fiktion. Aber wo fängt das eine an, woher das andere auf?

Nicht nur Michael Böhm setzt Dachau als Bühne für litererische Figuren ein, das tut auch der Dachauer Maler Christian Maria Huber in seiner "Zeitreise", in der der tapfere Don Quixotte gegen Windräder zu Felde zieht. (Foto: Toni Heigl)

Über weite Strecken spielt Michael Böhms Roman in der Stadt D.: Dort gibt es den Karlsberg, die Amperauen und "die Papierfabrik". "D." als Böhms Heimatstadt Dachau zu identifizieren, ist nicht schwer. Und doch ist es nicht exakt das Dachau, das die Dachauer kennen. Ein Lokal namens "Mark Twain" hat dort noch keiner besucht - weil es nicht existiert. Allerdings gehe es ihm auch gar nicht darum "ein realistisches Bild" seiner Stadt zu zeichnen, führt Böhm im Werkstattbericht zu seinem Buch aus. "Ich picke mir heraus, was ich für die Bühne meiner Erzählung benötige, wandle sie in Fiktion." So habe er es bereits bei seinen Romanen "Die zornigen Augen der Wahrheit" und "Mein Freund Sisyphos" gehalten.

"Es war nicht immer leicht, mich in ihn hineinzuversetzen"

Doch Schauplätze lassen sich leicht formen, Figuren leisten ihren Autoren auch Widerstand, erst recht, wenn es sich um einen hochintelligenten, aber weitgehend empathielosen Serienkiller handelt. "Es war nicht immer leicht, mich in ihn hineinzuversetzen, ihm nahe zu kommen, mir auszudenken, wie er in dieser oder jener Situation handeln würde", beschreibt Michael Böhm das schwierige Verhältnis. Drache fühlt sich fremd in der Menschenwelt, das merkt man schnell; Gast zu sein scheint die größte Nähe zu sein, die ihm in dieser Gesellschaft möglich ist. "Gefühle, Gefühle, das Wort geht mir nicht aus dem Kopf", notiert Drache. "Sollte ich welche haben, müssten sie mit der Wärme zu tun haben, die ich in der Brust spüre, wenn ich an Pia denke." In seinen eigenen Büchern, behauptet er, spielten Gefühle "keine Hauptrolle, sie kommen nur am Rande vor, werden oberflächlich behandelt. Ich sehe den Menschen als einen einsamen Felsen in seiner eigenen Zeit."

Böhm ist ein interessanter Roman gelungen, ein starker Krimi ist dies allerdings nicht geworden, denn der Protagonist entzieht sich nicht nur seinem Autor, sondern auch dem Leser. "Der verborgene Gast" bleibt letztlich ein Phantom, zu ungreifbar, zu blass, um großes Mitleid oder Schrecken zu erregen. In Stephen Kings Buch "Das Leben und das Schreiben" findet sich der Satz: "Ich schreibe so lange, wie der Leser davon überzeugt ist, in den Händen eines erstklassigen Wahnsinnigen zu sein."

Dieses Gefühl hat man bei Michael Böhm eigentlich nie.

Michael Böhm: Der verborgene Gast, Bookspot Verlag, 2022, 187 Seiten, Taschenbuch: 12,95 Euro, für Kindle: 7,99 Euro.

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