Literaturfestival "Dachau liest":Zuhören als schöpferischer Akt

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Zum Finale des Literaturfestivals "Dachau liest" spricht Schriftsteller und Schauspieler Edgar Selge mit BR-Moderator Knut Cordsen im Dachauer Ludwig-Thoma-Haus. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Edgar Selge beschließt mit der fünften Lesung das Literaturfestival "Dachau liest" im Ludwig-Thoma-Haus. Im Gespräch mit Knut Cordsen gelingt es dem Schriftsteller und Schauspieler, das Publikum an der eigenen Erinnerung und Verletzlichkeit teilhaben zu lassen. In Dachau bewegen ihn besonders ein Besuch der Gedenkstätte - und Thomas' Lausbubengeschichten.

Von Jessica Schober, Dachau

Irgendetwas an ihm wirkt rührend krähenhaft, dieses Schlaksige, Vornübergebeugte scheint wie ein körperlicher Ausdruck für sein genaues Hinschauen, sein Vermessen der eigenen Vergangenheit. Dass man diesem Mann gut zuhören kann, hingebungsvoll seiner vibrierenden Stimme lauschen mag, spürt das Publikum sofort. Edgar Selge hat für das selbst eingesprochene Hörbuch seines Debütromans gerade den Deutschen Hörbuchpreis als bester Interpret gewonnen. Der Abend steht ganz im Zeichen des Erinnerns und Zuhörens.

Die Leiterin der Stadtbibliothek, Slávka Rude-Porubská, begrüßt Edgar Selge und Knut Cordsen, Moderator beim Bayerischen Rundfunk, in fühlbarer Zuneigung mit einer kurzen Einführung in dieses Werk namens "Hast du uns endlich gefunden", jenem Erstlingswerk, das der 73-jährige Selge schrieb und das inzwischen 180 000 Mal verkauft wurde, wie er selbst erzählt. "Es geht in dem Text um Liebe und Zuneigung", sagt Rude-Porubská, "um Verlieren und Wiederfinden". Aus der Perspektive eines Zwölfjährigen - "vor dem Stimmbruch", wie Selge betont - beschreibt er sein Familiengefüge: Der Vater, ein besonders gut Klavier spielender Gefängnisdirektor, die angepasste, Geige spielende Mutter, die musikalisch und politisch die Eltern herausfordernden großen Brüder.

Lakonisches wird auf der Bühne komisch

"Wahrscheinlich bin ich auf die Bühne gegangen, um Worte aneinander zu reihen", sagt der Schauspieler, den man aus dem Münchner Polizeiruf genauso wie von der Bühne der Kammerspiele kennt. Und tatsächlich sind die Lesepassagen mit solcher Lebendigkeit vorgetragen, dass sie den Text komisch werden lassen an Stellen, die beim Lesen lakonisch wirkten. Selge erweckt das Geschriebene, mit verschmitztem bis trockenem Humor bringt er die Zuhörenden zum Schmunzeln - sogar in den Kapiteln, in denen es um den unverhohlenen Antisemitismus in seinem Elternhaus geht.

Vor der Lesung hat Selge die KZ-Gedenkstätte Dachau besucht. "Es gibt einen Punkt, an dem man sprachlos wird", sagt er. Taucht man in Selges Familiengeschichte ein, versteht man das Hadern mit den eigenen Eltern als etwas Größeres. Er könne aus heutiger Sicht nachvollziehen, sagt Selge, dass seine Eltern nach dem Ende des zweiten Weltkrieges rund 20 Jahre gebraucht hätten, um ihre Haltung aus der Zeit des Nationalsozialismus zu überwinden. Noch in der Signierstunde nach der Lesung hört man Selge mit Zuhörenden über das Verzeihen sprechen. "Alles, was wir tun im Leben, ist eine Beschäftigungstherapie, um diese Spannung bis zum Tod auszuhalten", sagt er auf der Bühne.

Selges eigene Biografie erlaubt keine parentalen Possessivpronomen

Selge liest gestraffte Passagen aus dem Einstiegskapitel "Hauskonzert" und aus dem Kapitel "Bei Martin", in dem er beschreibt, wie er - gedanklich Rotterdam bombardierend - im liebsten Birnbaum seines Vaters hockt. Er spricht schlicht von "der Vater" und "die Mutter", seine eigene Biografie erlaubt keine parentalen Possessivpronomen. Im Gespräch mit Cordsen erfahren die Zuhörenden aber nicht nur Biografisches, sondern auch, wie Selge ein schreibender Mensch wurde.

"Keiner kann im sprachlichen Bereich arbeiten, ohne dass jemand einen Resonanzraum dafür herstellt", sagt Selge. Es brauche einen Spiegel, ein Gegenüber. Anders als sein Vater glaube er, dass auch Zuhören etwas Kreatives habe. "Zuhören kann doch eine ebenso schöpferische Tätigkeit sein wie Komponieren", lässt er sein zwölfjähriges autofiktionales Ich im Text sagen.

Das Buch ist nur noch ein Zehntel des Ursprungstexts

Überhaupt habe er beim Schreiben erst versucht, in der dritten Person Präteritum zu erzählen, aber "das funktionierte nicht". Er musste zum Ich der Gegenwart finden, um die Vergangenheit zu erzählen. Als literarische Vorbilder nennt Selge die jüngst mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Annie Ernaux und den jungen französischen Schriftsteller Édouard Louis, der "durch das Schreiben langsam die eigene Identität feststellt". Eine weitere literarische Inspiration seien Ludwig Thomas' Lausbubengeschichten gewesen, sagt er mit Verweis auf den Saal, in dem er liest.

Das Buch sei nun nur noch ein Zehntel von dem, was er ursprünglich geschrieben habe. Ein Fünftel habe er selber weggestrichen, den Rest die Lektorin, weil sie einen Sinn für die Schönheit der Knappheit und Präzision habe. Die Isolation in der Pandemie habe ihm im Schreibprozess eher gedient. Seine Frau und Kinder hätten mehrmals Corona gehabt, Selge verbrachte die Quarantäne in seiner Berliner Wohnung: "Und jedes Mal hat mir das für das Buch genützt, ich kann es nicht anders sagen." Im Saal wird gekichert, doch Selge bekräftigt: "Wenn man ein Familienmensch ist, hat man eine große Sehnsucht nach Einsamkeit."

"Erinnerung ist ohne Fiktion nicht möglich", erzählt Selge weiter. "Die großen Ereignisse unserer Leben gehen wie ein Eiswind über uns hinweg. Um später beim Erinnern genau zu sein, müssen wir erfinden." Für diese Präzision zahlt Selge einen hohen Preis, wie er später im Buch schreibt: "Je genauer ich werde, desto fremder werde ich mir. Hoffentlich verschwinde ich nicht zwischen den Sätzen." Diese Hoffnung eint alle Zuhörenden.

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