"Dieses Buch ist keine Biografie und kein Roman, keine Erzählung und auch keine Dokumentation. Es ist weder Sachbuch noch Belletristik, weder Fakt noch Fiktion. Nur, was ist es dann?", fragt Autorin Julia Gilfert und antwortet: "Es ist eine Geschichte. Die Geschichte meiner Familie, erzählt in meinen Worten." Der Titel des Buches, aus dem Julia Gilfert im Thoma-Haus aus Anlass des Holocaust-Gedenktags liest, ist "Himmel voller Schweigen". Auch wenn es im Werk der 1990 geborenen Enkelin des Euthanasie-Opfers Walter Frick vor allem um ihren Großvater und dessen in der Familie totgeschwiegenes Schicksal geht, ist es mehr. Es zeigt das oft verschämt verschwiegene Los all derer, die von den Nationalsozialisten als "lebensunwert" bezeichnet und ermordet wurden.
Hatten die Veranstalter, die Stadt Dachau, KZ-Gedenkstätte, Versöhnungskirche, Lagergemeinschaft und mehrere Vereine bisher zum Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz alljährlich Überlebende und Zeitzeugen eingeladen, so sei dies mittlerweile kaum mehr möglich, wie Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) erklärt. "Wir haben uns deshalb entschieden, auch die zweite und dritte Generation verstärkt in das Gedenken einzubinden - und auch künstlerische Formate vermehrt in den Blick zu nehmen", so der OB. Gerade sei zu verzeichnen, "dass Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus nach 1945 nie verschwunden sind und unsere Demokratie heute brüchiger und gefährdeter machen, als wir lange dachten".
Julia Gilfert, geborene Frick, beginnt mit einem Traum als 18-Jährige, in dem ihr als Kind im Alter von vier Jahren erstmals der Opa erscheint, den sie bisher nur von einem Foto kannte: "Die Person Opa gab es nicht in meinem Leben." Bei einem Sonntagsfrühstück im Jahr 2010 fragt sie ihren Vater: "Was ist eigentlich mit deinem Vater passiert?"' Eine befriedigende Antwort erhält sie nicht. So beginnt ihre Recherche über das Schicksal des Großvaters, als Julia im Elternhaus einen Aktenordner mit Dokumenten von ihren Großeltern Walter und Luise Frick entdeckt.
Geboren wurde Walter Frick 1908 in Zweibrücken in der Pfalz. Er begann 1928 ein Studium der Musik in München. Dort lernte er auch seine spätere Frau Luise kennen, die Gesang studierte. 1933 erhielt Frick seine erste Stelle in Rostock als Chorrepetitor und später Opernkapellmeister, Luise wurde 1934 ins Opernensemble aufgenommen. 1935 sollte die Verlobung stattfinden, geplant sogar als Doppelverlobung, denn Walters Schwester Hedwig wollte sich zur gleichen Zeit mit Armin Beilhack verloben. "Die Gerüchte, sein potenzieller Schwager habe sich bei der SS beworben, bereiteten ihm Bauchschmerzen", liest Julia Gilfert vor. Doch verhindern ließ es sich nicht. Walter und Luise heirateten 1936, 1937 kam die Tochter Gutrune zur Welt - benannt nach einer Figur aus Richard Wagners Oper "Götterdämmerung". Bei Hedwig dauert es mit der Hochzeit etwas länger, denn sie muss 1937 erst die "Bräuteschule" für künftige Frauen von SS-Männern besuchen.
Offizielle Todesursache: Depression und Erschöpfung
1938 erleben Walter und Luise den Höhepunkt ihrer Karrieren, er dirigiert, und sie singt auf der Opernbühne. 1939 beginnt der Krieg, Schwager Armin nimmt am Polenfeldzug teil. 1940 wird Walter Frick entlassen, während Luise mit Achim, Julias Vater, zum zweiten Mal schwanger ist. Frick geht nach Berlin, will dort noch einmal studieren und Musiklehrer werden. Bewegend ist es, als Julia Gilbert aus ihrem Buch zitiert, wie sie 2016 als 26-Jährige in Berlin-Charlottenburg das Haus aufsucht, in dem einst ihr Großvater gelebt hat: "Ich studiere die Klingelschilder und versuche mir vorzustellen, dass auf einem von ihnen einst 'W. Frick' gestanden hat. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich klingelte, und er würde aufmachen." Doch das kann nicht passieren, denn im Frühjahr 1941 lässt ihn SS-Mann und Schwager Armin in eine "Nervenklinik" einweisen. Dort wird er am 7. August ermordet. Auf der Sterbeurkunde ist beschönigend von Depression und Erschöpfung als Todesursache die Rede. Unterzeichnet von Schwager Armin Beilhack. Über Walter Fricks Tod wird in der Familie jahrzehntelang geschwiegen.
Dreimal unterstreicht Julia Gilbert ihre Lesung mit von ihr gesungenen und am Klavier begleiteten Liedern: "Wenn der Wind weht am Meer" und "Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück", Lieder von Robert Gilbert und Werner Heymann, dann das "Wiegenlied" ihres Opas, eine von nur drei Kompositionen, die von ihm erhalten sind. Ein sehr persönlicher Auftritt mit einer berührenden Kombination aus Lesung, Vortrag und Gesang.
"Bringen wir den Schneeball zum Schmelzen."
Zum Abschluss erinnert Julia Gilfert, ganz aktuell, an ein Zitat von Erich Kästner: "Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist." Die Frage sei nicht: "Was hätten wir damals getan? Sondern: Was tun wir heute? Wenn wir zusammenstehen, entsteht am Ende so viel Wärme, dass der Schneeball zu schmelzen beginnt." Den Satz griff der OB bei der Verabschiedung auf, als er zur Teilnahme an der Demonstration "Demokratie verteidigen, Rechtsextremismus bekämpfen!" am Sonntag aufrief: "Bringen wir den Schneeball zum Schmelzen."
Julia Gilfert, Himmel voller Schweigen, Fragmente einer Familiengeschichte, Ultraviolett Verlag, Dresden.