Ausstellung:Der Künstler mit der kalten Nadel

Lesezeit: 4 min

Farbenfroh und filigran präsentieren sich die meisten der in Dachau ausgestellten Grafiken des Künstlers Arnulf Rainer. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Arnulf Rainer gilt als bedeutendster Vertreter des Informel in Österreich. Die Galerie Lochner widmet dem 94-Jährigen eine Ausstellung. Drei seiner abstrakten Grafiken werden zum ersten Mal öffentlich gezeigt.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Deutsche Maler der Nachkriegszeit von internationalem Rang bestimmten in den vergangenen Jahren das Ausstellungsprogramm des Dachauer Galeristen und Kunst-Aficionados Josef Lochner. Jörg Immendorff, Markus Lüpertz, Günther Uecker, Heinz Mack, Otto Piene, A.R. Penck, Sigmar Polke, K.O. Götz, sie alle waren schon in dem kleinen Ausstellungsraum an der Konrad-Adenauer-Straße 7 mit ihren Druckgrafiken vertreten. Fehlt eigentlich nur noch der Superstar der Gegenwartskunst, Gerhard Richter.

"Stimmt", sagt Lochner und lacht, aber daraus wird wohl nichts, auch nicht in ferner Zukunft: Viel zu teuer, allein schon die Versicherungssummen wären utopisch. Um Gerhard Richters Werke zu sehen, muss man schon in ein großes Kunstmuseum gehen, etwa zur Ausstellung im Dresdner Albertinum. Dort ist derzeit eine Auswahl seiner übermalten Fotografien zu sehen, die Eröffnung der Schau kam sogar in den Abendnachrichten.

"Ich habe inzwischen ganz gute Beziehungen"

Dabei ist das Übermalen eigentlich das Markenzeichen eines anderen Künstlers, nämlich von Arnulf Rainer. Von dem 94-jährigen Österreicher sind in Dachau derzeit einige Druckgrafiken zu sehen, vor allem Kaltnadelarbeiten, aus dem Zeitraum von 1961 bis 2022, drunter sind auch drei ganz aktuelle Grafiken, "Blaue Höhle", "Roter Mars" und "Schraffur", die hier in der Galerie Lochner ihre Ausstellungs-Weltpremiere feiern; sie sind zum ersten Mal öffentlich zu sehen. "Ich habe inzwischen ganz gute Beziehungen", sagt Josef Lochner zu diesem Coup.

Auf der nach oben offenen Gerhard-Richter-Skala des Hypes ist Arnulf Rainer immerhin im oberen Mittelfeld anzusiedeln. Mehrmals nahm er an der Documenta teil und vertrat Österreich 1978 auf der Biennale in Venedig. Bereits 2009 wurde ein eigenes Museum für ihn eingerichtet, in einem ehemaligen Frauenbad von 1821, das im Stil des französischen Klassizismus errichtet wurde. Der genius loci der Galerie Lochner passt bestens dazu, früher war dies mal ein Showroom für Whirlpools.

Arnulf Rainer erblickte am 8. Dezember 1929 das Licht der Welt. Angeblich verließ er die Schule, weil er von einem Kunsterzieher gezwungen wurde, nach der Natur zu zeichnen. Die Akademie für angewandte Kunst in Wien nahm ihn 1949 auf, wegen einer künstlerischen Kontroverse verließ er sie aber bereits nach einem Tag wieder, die Wiener Akademie für bildende Künste schmiss er nach drei Tagen, man hatte seine Kunst als "entartet" geschmäht. Wie zu Zeiten der Nazis.

Künstlerische Annäherungsversuche

In seinem Heimatland zählt Arnulf Rainer heute zum bedeutendsten Vertreter des Informel, einer abstrakten Kunstrichtung, die auf geometrische Kompositionen zugunsten einer intuitiven gestischen Malweise verzichtet. Weil er sich neue Leinwände anfangs kaum leisten konnte, stromerte er über Flohmärkte und kaufte billige Kunst-Faksimiles, bevorzugt von Malern der italienischen Frührenaissance und aus den Niederlanden. Auf diese Weise, so erzählte er einmal in einem Interview, habe er sich mit den alten Künstlern "verheiratet", freilich ohne deren Einverständnis.

Gleiches tat er später mit spärlich bekleideten Damen auf alten Glamour-Fotografien, die er farbenfroh verzierte. Künstlerische Annäherungsversuche, Bauchpinseleien, Dialog mit Strich, doch ohne Faden. Auch in der Galerie Lochner kann man einige seiner übermalten Bilder sehen, beziehungsweise mit feiner Nadel überzeichnete Motive.

Dazu gehören zwei Arbeiten mit dem Titel "Mythos Marilyn" von 2002 mit dem Bildnis der US-Diva, farblich stark reduziert und so kontrastarm, dass die Monroe fast wie ein körperloses Phantom erscheint. Die feinen schwarzen Linien akzentuieren einzelne Körperlinien, das gelockte Haar, die Stirnpartie, das Dekolleté; die Linien schmiegen sich an ihre Silhouette, bilden abstrakte Gebilde, gebündelte Linien, die sich biegen und ausfransen in stürmischen Strichen.

Verwandlung durch Überzeichnen

Diese "Überzeichnungen" gibt es auch auf Selbstbildnissen, es sind Verwandlungsversuche bis zur eigenen Unkenntlichkeit, wobei er unter den dicht gesetzten Strichen manchmal fast verschwindet ("Selbst mit Ecke (Selbstverdeckung)") oder, noch radikaler, die "Schattenbüste", in der sein Antlitz komplett von Strichen geschwärzt ist.

Nicht die Motive seien es, die Rainer interessieren, schrieb ein Kunstkritiker einmal, sondern die Linien, "die Mikrostrukturen in der Kunst". Rainers Grafiken sind kontrollierter, kühler und geordneter als seine Malerei und stehen in feinem Widerspruch zur reinen Lehre des Informel: In Ansätzen sind seine Grafiken geradewegs geometrisch. Die abstrakten Linienverläufe bilden eine Vielzahl von Formen, von Rechtecken, Balken, Bögen, Kreisen, Scheiben, Segmenten und Verästelungen. Manchmal sind es feine Netze, dann wieder sind die Linien so dicht über und nebeneinander gesetzt, dass sie sich zu kompakten farbigen Flächen verdichten.

"Blaue Höhle" heißt diese erstmals ausgestellte Arbeit aus dem Jahr 2022. (Foto: Toni Heigl)
"Roter Mars", ebenfalls von 2022. (Foto: Toni Heigl)
Norma Jean im Herzen: "Mythos Marilyn". (Foto: Toni Heigl)
"Schattenkreuz", Kaltnadel auf Aluminium. (Foto: Toni Heigl)

Die Titel, die Rainer seinen Bildern gibt, sind, so sagte er einmal, "sich mir aufdrängende Willkürlichkeiten". Vermutlich hätte ein Kind ganz ähnliche Namen gewählt: "Tanne" (sehr struppig), "Wolke" (sehr finster) oder "Große Wiese" (schön grün). Das ist natürlich von koketter Trivialität, im Informel sind die Werke mehr als Bildnisse, sie sind Geschehnis, die Erschaffung des Kunstwerks findet im Geiste des Betrachters statt. Das Resultat ist nicht immer im Sinne des Erfinders, weshalb Arnulf Rainer zu manchen Werken auch Kommentare als "Gebrauchstexte" abgibt - "um noch schlimmeren Interpretationen anderer zuvorzukommen".

Das gilt insbesondere für seine Kreuz-Motive, die bereits in den 1950er Jahren Einzug in sein Werk hielten und von denen in Dachau mehrere Varianten zu sehen sind, etwa das "Schieferkreuz" oder das "Schattenkreuz". Dem freien Spiel der Linien geben sie einen Rahmen und verleihen ihm eine Art höhere Ordnung.

Das Kreuz ist Rainers Grundfigur

Trotz der naheliegenden christlichen Konnotation ziehe er es vor, "religiöse Interpretationen meiner Werke zu vermeiden", erklärt Arnulf Rainer. "Das Kreuz ist meine Grundfigur. Mir fällt einfach nichts anderes ein, was mich so herausfordert und in Fleiß und Arbeitswut bringt." In der Überschneidung zweier Striche geht das Lineare ins Komplexe über; im Grunde genommen beginnt hier das künstlerische Zeichnen.

Zugleich hat es etwas Elementares, Zeichenhaftes, auch jenseits christlicher Symbolik. "Das Kreuz ist das Kürzel für das menschliche Gesicht", so Rainer. "Tritt vor den Spiegel, betrachte dein Angesicht, du wirst sehen, es ist ein Kreuz darin markiert, wo auch immer."

Arnulf Rainer. Ausstellung in der Galerie Lochner. Öffnungszeiten: Donnerstag 16 bis 19 Uhr, Samstag 12 bis 15 Uhr, Sonn- und Feiertage 14 bis 17 Uhr. Zu sehen bis 7. Januar 2024.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusBarockfest
:Zeitreise ins 17. Jahrhundert

Aus Anlass des 250. Weihetages der Pfarrkirche St. Alto feiert die Marktgemeinde ein ganzes Wochenende lang ein Barockfest. Es ist der Höhepunkt eines besonderen Jahres für Altomünster.

Von Dorothea Friedrich

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: