Coronavirus:"Das größte Problem ist, in der Enge gefangen zu sein"

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Sylvia Neumeier ist Geschäftsführerin der Drogenberatungsstelle Dachau. Sie und ihr Team betreuen 400 suchtkranke Menschen. Diese treffen die derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen besonders hart. Viele haben Vorerkrankungen und gehören zur Risikogruppe

Von Interview von Jacqueline Lang

Von den derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen sind alle Menschen betroffen. Einige treffen die Beschränkungen allerdings besonder hart, dazu zählen Suchtkranke. Sylvia Neumeier, die langjährige Geschäftsführerin von der Drogenberatungsstelle (Drobs) in Dachau, versucht trotzdem, so gut es geht, für ihre Klienten da zu sein in diesen schwierigen Zeiten. Der Bedarf, zumindest jemanden zum Reden zu haben, ist noch größer als sonst. Die Notrufhotline der Drogenberatungsstelle ist zwar auch im normalen Betrieb sieben Tage die Woche 24 Stunden täglich erreichbar - doch seit knapp vier Wochen klingelt das Handy noch häufiger als sonst.

SZ: Welche Schwierigkeiten ergeben sich denn durch die aktuelle Situation im Besonderen für suchtkranke Menschen?

Sylvia Neumeier: Der 24-Stunden-Notruf klingelt permanent, aber ich kann natürlich immer nur mit einer Person reden. Allerdings haben wir den Vorteil, dass es den Notruf nicht erst seit den Ausgangsbeschränkungen gibt und wir somit schon immer für unsere Leute 24 Stunden am Tag erreichbar waren und weiterhin sind. Aber derzeit hat der 24-Stunden-Notruf Hochkonjunktur, denn in dieser Situation unterscheiden sich Suchtkranke nicht von anderen Menschen. Denen fällt auch die Decke auf den Kopf, die haben Versorgungsengpässe, haben Krisen, vor allem psychische Krisen. Wir haben also gut zu tun, obwohl wir größtenteils im Home- Office arbeiten.

Finden auch die Beratungsgespräche telefonisch statt?

In den ersten zwei Wochen gab es tatsächlich keine persönlichen Beratungsgespräche, aber mittlerweile ist es so, dass ein Berater mit einem Klienten im Abstand von zwei Metern arbeiten kann.

Und wie läuft die Ausgabe von Medikamenten?

Die Menschen, die eine Substitutionsbehandlung bekommen, kommen ganz normal jeden Tag, natürlich unter Einhaltung der nötigen Schutzmaßnahmen. Damit das Risiko, sich zu infizieren, für meine Kollegen gering bleibt, habe ich die Ausgabe alleine übernommen. Wenn es mich erwischt, könnte der nächste Kollege nachrücken.

Stellen Sie trotz Ihres Angebots fest, dass der unkontrollierte Drogenkonsum zugenommen hat?

Das wird erst die Zukunft zeigen. Was man aber sicherlich jetzt schon sagen kann, ist, dass die Beschaffung von Substanzen vermehrt ins sogenannte Darknet abgerutscht ist, weil Besuche bei Ärzten teilweise gar nicht möglich waren.

Viele Suchtkranke gehören ja auch zur Risikogruppe. Können diese Menschen denn gerade überhaupt das Haus verlassen, um zu Ihnen in die Einrichtung zu kommen?

Die Leute, die substituiert sind, haben sich der Situation gestellt, denn es bleibt ihnen ja auch gar nichts anderes übrig. Ansonsten würden sie ja in den Entzug fallen, was sehr viel schlimmer wäre. Außerdem muss man auch bei Suchtkranken differenzieren.

Inwiefern?

Es kommt darauf an, was die Menschen für Vorerkrankungen haben und es kommt natürlich auf das Alter an. Wir versorgen Menschen im Alter von circa 14 bis 75. Dadurch ergibt sich ein ganz unterschiedliches Risiko für die Menschen. Aber generell kann man natürlich schon sagen, dass jemand, der langjährig suchterkrankt ist, ein erhöhtes Infektionsrisiko hat. Umso wichtiger ist es deshalb, dass die Schutzmaßnahmen eingehalten werden. Aber in der Hinsicht sind meine Klienten wirklich sehr diszipliniert.

Ist Ihnen denn bekannt, dass sich einer Ihrer Klienten infiziert hat?

Wir betreuen hier vor Ort normalerweise 400 Leute aus dem gesamten Landkreis. Davon war der Kontakt mit 100 bis 150 verstärkt in den letzten vier Wochen und von denen ist mir nicht bekannt, dass sich jemand infiziert hätte.

Was ist das größte Problem, mit dem Suchtkranke in der derzeitigen Situation zu kämpfen haben?

Das größte Problem ist, auf engem Raum gefangen zu sein. Wir betreuen auch einige Menschen, die beispielsweise in Obdachlosen-Containern leben und die haben ja ohnehin wenig Platz für sich. Da haben wir schon gemerkt, dass von diesen Menschen häufiger Anrufe kommen. Das andere große Thema ist fehlende menschliche Nähe, aber da werden wir auch erfinderisch.

Wie das?

Wir nutzen verstärkt Facetime, da sieht man den anderen auch mal. Das ist auch das Positive: Ich werde meine Einrichtung dahingehend fit machen, dass die Möglichkeit der Videotelefonie in der Zukunft datenschutzrechtlich abgesichert möglich sein wird. Aus jeder Krise kann man etwas lernen und für mich ist es auf jeden Fall die Erkenntnis, dass der Wunsch groß ist, uns auch zu sehen, nicht nur zu hören. Das war mir bislang nicht so klar.

Wie schaffen Sie es denn aus der Distanz, die Menschen aus für sie schwierigen Situationen zu holen, wenn Sie nicht selbst vor Ort sein können?

Nachdem es ja immer noch die Möglichkeit gibt, dass jemand alleine nach draußen gehen kann, habe ich schon in zwei Fällen gesagt: Du verlässt jetzt die Wohnung bevor es zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommt. Ich bin dann in der nächsten halben Stunde am Telefon mitgegangen. Ich führe sie dann zum Beispiel durch die Atemübungen, die ich auch normalerweise als Traumafachberaterin anwende. So kann man Menschen auch telefonisch ganz gut runterholen.

Anfangs war ja noch nicht klar, ob es nicht nur zu Ausgangsbeschränkungen, sondern auch zu Ausgangssperren kommt. Hatten Sie da Sorgen um Ihre Klienten?

Ja, auf jeden Fall. So eine Situation birgt das Risiko, dass eine gehäufte Anzahl an Suizidversuchen passieren könnte. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Menschen, die substituiert sind, regelmäßig zu uns kommen können. Das ist ja wie der Gang zum Arzt und muss immer möglich bleiben.

Haben Sie als Einrichtung das Gefühl, dass Sie von der Regierung ausreichend unterstützt werden?

Wenn Sie mich auf Schutzmasken ansprechen, kann ich ganz deutlich sagen: Nein. Wir haben nur über unser betreutes Wohnen immerhin zehn Schutzmasken und drei Schutzanzüge gekriegt, aber das auch erst vor etwa zehn Tagen. Für mich und meine Mitarbeiter in der Beratungsstelle habe ich keine einzige Maske bekommen. Alle Masken, die wir hier verwenden, hat unsere Vorstandsvorsitzende Gabriele Winter genäht. Ich hoffe deshalb, dass wir aus dieser Situation lernen und Schutzbekleidung und Desinfektionsmittel in Zukunft in Europa hergestellt werden und wir auch bundesweit wieder Lager haben.

© SZ vom 16.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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