Ein Jahr nach der Abschiebung der Karlsfelder Familie nach Nigeria haben die Esiovwas jetzt Klage dagegen eingereicht, dass sie selbst keine Akteneinsicht in die Umstände ihrer Ausweisung bekommen. Bislang will das Landratsamt Dachau keine Dokumente herausgeben, die die Vorgänge in der Nacht des 12. Juli 2022 beleuchten, sondern beruft sich auf Geheimhaltungspflichten. Diese würden aber nach einer bereits realisierten Abschiebung kaum mehr greifen, meint das Anwaltsbüro der Esiovwas. Familienvater Nicholas Esiovwa sagt: "Sie haben mit uns gemacht, was sie wollten. Wir wollen Transparenz und Gerechtigkeit."
Andreas Eibelshäuser hat die Klageschrift für die Berliner Rechtsanwaltskanzlei Böhlo ausgearbeitet; er argumentiert, dass die Akteneinsicht im Fall Esiovwa unbedingt nötig sei, um die Rechtmäßigkeit des Abschiebungsvollzugs final zu überprüfen. In den Dokumenten müssten sich seiner Meinung nach zum Beispiel ein Festnahmebeschluss und ein Durchsuchungsbeschluss des Dachauer Amtsgerichts finden lassen; ohne diese Dokumente hätte die Familie nachts in ihrer Unterkunft nicht festgenommen werden dürfen.
"In der Akte fehlen wesentliche Hinweise"
Sehr häufig würden diese Beschlüsse aber gar nicht eingeholt, berichtet Rechtsreferendar Eibelshäuser aus der Praxis. "In Dachau sind viele Fragen offen, das Landratsamt hat zwar eine Akte überstellt, darin fehlen aber wesentliche Hinweise über die Vorgänge in der Abschiebenacht." Wenn es beispielsweise Zweifel an der Reisefähigkeit eines Betroffenen gebe, dann müsse eine amtsärztliche Untersuchung durchgeführt werden, so Eibelshäuser. Ob es eine solche Untersuchung gab, lässt sich bislang nicht nachvollziehen. Der Ton in den Antworten der Behörden hat ihn jedenfalls überrascht. "Die Haltung zeugt von einem großen Allmachtsverständnis des Landratsamtes."
Konkret geht es in der Klageschrift um den Paragrafen 97a des Aufenthaltsgesetzes. Der umstrittene Paragraf gilt erst seit 2019 und stuft "Informationen zum konkreten Ablauf einer Abschiebung", insbesondere zum geplanten Termin einer Abschiebung, als Dienstgeheimnis ein, wie der Informationsverbund Asyl und Migration zusammenfasst. "Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Behörden können sich damit strafbar machen, wenn sie diese Informationen weitergeben", heißt es in dem Bericht.
"Die Familie wurde weder festgenommen, noch fand eine Durchsuchung statt"
Die Esiovwas haben nun die drei zuständigen Behörden aufgefordert, ihnen darzulegen, inwieweit der Vollzug ihrer nächtlichen Abschiebung rechtlich in Ordnung gewesen sein soll: Das Landratsamt Dachau, die zentrale Ausländerbehörde und das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten sollen dazu Akteneinsicht gewähren. Keine der Behörden erteilte umfängliche Auskunft. "Der Staat hat sich hier offenbar so organisiert, dass man in bestimmte Vorgänge nicht reingucken kann", sagt Eibelshäuser, "das ist erschreckend und läuft außerhalb Bayerns ganz anders."
Dem Landratsamt Dachau wird die Klage nun in den kommenden Tagen vom Münchner Verwaltungsgericht zugestellt werden. Bis dahin kann das Landratsamt eigenen Angaben zufolge keine Stellung zum Fall nehmen. Eine Sprecherin weist darauf hin, dass durchaus Akteneinsicht gewährt wurde, jedoch einzelne Akteninhalte geheim zu halten seien.
Auf die Frage nach Durchsuchungs- oder Festnahmebeschlüssen, teilt sie mit: "Die Familie wurde jedoch weder festgenommen, noch fand eine Durchsuchung statt." Andreas Eibelshäuser sagt dazu: "Das mag die Rechtsauffassung des Landratsamtes sein, aber um darüber vor Gericht streiten zu können, brauchen wir eben Akteneinsicht."
Der Fall der Esiovwas könnte einen juristischen Präzedenzfall schaffen
Wichtig ist, zu verstehen, dass die Familie Esiovwa nicht gegen ihre tatsächliche Abschiebung klagt. Sondern sie fordert Zugang zu Informationen, um überprüfen zu können, ob die Art und Weise der Abschiebung rechtskonform war. Andreas Eibelshäuser sagt: "Es kann auch sein, dass nach der Akteneinsicht klar wird, dass bei dieser Abschiebung alles korrekt gelaufen ist", aber das lasse sich erst überprüfen, wenn die Behörde die Dokumente herausgibt.
Die Anwaltskosten für die Familie Esiovwa übernimmt unterdessen das Portal für Informationsfreiheit "Frag den Staat". Darüber lief bereits eine erste offizielle Anfrage nach Akteneinsicht. Philipp Schönberger von "Frag den Staat" sagt: "Staatliches Handeln muss in einem Rechtsstaat überprüfbar sein." Er zweifelt an der Verfassungsmäßigkeit des Paragrafen 97a und seiner Auslegung: "Auf jeden Fall entfällt die Geheimhaltungspflicht im Nachgang der Abschiebung."
Martin Modlinger von der Seebrücke Dachau, zugleich Landtagskandidat der Grünen, hat im Vorfeld der Klage auch eine Einschätzung der Gesellschaft für Freiheitsrechte eingeholt, um zu überprüfen, ob die Akten im Fall Esiovwa der Geheimhaltungspflicht unterliegen oder nicht. In der Einschätzung heißt es: Die Gemeinhaltungspflicht nach Paragraf 97a besteht "nur innerhalb eines laufenden Verwaltungsverfahrens", also nicht mehr nach Abschluss des Verfahrens. Insofern könnte der Fall der Esiovwas auch einen juristischen Präzedenzfall schaffen.
Andreas Eibelshäuser stellt sich auf eine Verhandlung frühestens im kommenden Jahr ein, "ich habe keine Hoffnung, dass das schnell entschieden wird". Dennoch wolle die Kanzlei im Zweifel durch alle Instanzen gehen, "notfalls bis vor das Verfassungsgericht".
Für Bürgerinnen und Bürger gelte es zu erkennen, dass Akteneinsicht allen gewährt werden müsste. "Das betrifft nicht nur Asylsuchende, sondern kann beispielsweise genauso für die Eltern von Umweltaktivisten relevant werden, wenn Behörden eines Tages keine Einsicht in die Vorgänge rund um eine Festnahme gewähren."