Eins ist wie immer an diesem Donnerstag: Die zehnte Klasse von Claire Ashbee hat Wirtschaft, und die Lehrerin ist da. Sie sitzt im Klassenzimmer auf dem Campus der privaten Bavarian International School (BIS) in Haimhausen und unterrichtet. Gerade sagt sie ihren Schülerinnen und Schülern, sie sollten herausfinden, was es für gute und schlechte Folgen haben kann, wenn Konzerne Fabriken in Entwicklungsländern bauen, ob nun Coca-Cola in China oder Nike in Vietnam; die Schüler sollen dazu in Zeitungen und in Studien recherchieren.
"Any questions?", will Ashbee wissen, "gibt es Fragen?" Und normalerweise würde sie jetzt ins Klassenzimmer blicken - doch da sitzt Ashbee derzeit alleine. Statt auf ihre leibhaftigen Schüler blickt sie auf 24 kleine Gesichter auf ihrem Bildschirm. Und dann macht sie eine drehende Handbewegung vor ihre Computer-Kamera und sagt: "Unmute yourself", "schaltet euch selber wieder laut".
Schule ist in Zeiten von Corona nicht mehr so, wie sie einmal war. Um die Ausbreitung des Virus zu bremsen, sind seit dem 16. März bis zu den Osterferien alle Schulgebäude in Bayern geschlossen. Lernen sollen die Schüler daheim, wie genau, regelt jede Schule selbst.
Die BIS war darauf eingestellt: Schon 2002, während der Sars-Pandemie, hätten sie begonnen, sich auf mögliche Schulschließungen vorzubereiten, sagt Schulleiterin Chrissie Sorenson. Lehrer wurden geschult und ein eigenes Lernsystem namens "Distance Learning" etabliert. Seit knapp zwei Wochen treffen sich die Klassen jetzt in Videochats; meldet sich ein Schüler nicht an, bekommen er und seine Eltern eine Erinnerung per E-Mail. In der Schulbibliothek können sich die Schüler Bücher abholen, wenn diese nicht digital verfügbar sind. Und wenn Claire Ashbee ihre Arbeitsaufträge verteilt hat, lässt sie den Videochat gerne noch ein bisschen laufen. Dann können die Kinder ohne Lehrerin noch miteinander ratschen.
Es ist still an der BIS, die Stimmung ist fast gespenstisch, trotzdem ist hier wieder so etwas wie Routine eingekehrt. An vielen anderen Schulen aber kann davon noch keine Rede sein. Lehrerinnen und Lehrer suchen nach Wegen, digital zu unterrichten, und sie experimentieren, es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Das bayerische Kultusministerium verwies Anfang März auf das vom Staat etablierte Portal "Mebis": Lehrer und Schüler könnten sich hier in virtuellen Klassenzimmern treffen. Doch kaum waren die Schulen geschlossen, war das Lernportal überlastet und noch dazu einem Hacker-Angriff ausgesetzt. Die Lehrer mussten andere Wege finden. Viele mussten sich überhaupt erst einmal die E-Mail-Adressen ihrer Schüler besorgen.
Florian Zeindl war da einen Schritt weiter: Er hatte bereits einen E-Mail-Verteiler. Zeindl ist digitaler Berater im Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverband (MLLV), vor allem aber ist er Klassenlehrer einer neunten Klasse an der Mittelschule an der Schleißheimer Straße. Seit dem 16. März verschickt er jetzt Wochenpläne und Arbeitsaufträge per E-Mail. Zusätzlich setzt er auf das Videokonferenz-System "Zoom". Diese Software sei derzeit kostenlos, und der Zugang funktioniere ohne Passwörter, die Schüler vergessen könnten, sagt er. Statt eine Formel an die Tafel zu schreiben, können Lehrer sie den Schülern direkt auf deren Bildschirmen zeigen. Und es gibt auch eine Melde-Funktion: Lehrer können Schüler stumm- und für Wortmeldungen wieder freischalten.
Manche Lehrer setzen auf Onlineprogramme, andere bieten Telefonsprechstunden an
"Theoretisch wäre damit normaler Unterricht möglich", sagt Zeindl. Er selber nutze Zoom aber nur für eine digitale Fragestunde, zum Verbessern von Arbeitsblättern und um präsent zu sein. Um seine Kollegen zu unterstützen, hat er am ersten Wochenende eine Anleitung verschickt. Mittlerweile sei das Programm in mehreren Klassen seiner Schule im Einsatz.
Andere Schulen suchen andere Wege. An der städtischen Erich-Kästner-Realschule etwa unterrichten mehrere Lehrer mit dem Programm "Teams" von Microsoft; Schüler, denen ein Endgerät fehlt, dürfen Schul-Tablets auch zu Hause nutzen, erklärt das Bildungsreferat. Andere Lehrer bieten Telefonsprechstunden an. Und die Grundschule an der Josephsburgstraße zum Beispiel setzt auf ihre Homepage. Wochenpläne und Lernmaterial für alle Klassen stehen hier frei zur Verfügung. In einem passwortgeschützten Bereich gibt es zusätzlich von den Lehrern selbst gedrehte Erklärvideos. Die Lehrer würden außerdem alle Schüler anrufen und sie fragen, wie es ihnen ergeht, sagt Schulleiterin Vera Reindl.
Beim Stoff mache ihre Schule derzeit keine Abstriche, sagt Reindl. Der werde durchgenommen wie geplant - allerdings hätten einige Lehrer in den Tagen vor der Schulschließung extra viel neuen Lernstoff erklärt, den die Kinder nun selbständig üben könnten. Damit alle zurechtkommen, bezieht die Grundschule auch die Eltern ein: Diese könnten helfen, etwa indem sie feste Uhrzeiten für die Schularbeiten festlegen, sagt Reindl.
Auf der Homepage ihrer Schule finden Eltern weitere Tipps: Sie könnten als Ansprechpartner da sein, wenn die Kinder Fragen haben, heißt es da. Sie könnten gemeinsam mit den Schülern für Bewegungspausen an die frische Luft gehen und generell versuchen, die Kinder zu motivieren, "möglichst ohne Druck".
Unter enormem Druck stehen freilich viele Eltern selber. Alle berufstätigen Eltern, besonders Alleinerziehende, stünden "vor einer existenziellen Zerreißprobe", heißt es in einem offenen Brief, den der Verband alleinerziehender Mütter und Väter in der vergangenen Woche an Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) geschrieben hat. Selbst wenn Eltern daheim arbeiten könnten, sei "der Spagat zwischen Kinderbetreuung und Arbeit kaum machbar". Dazu kämen nun Arbeitsaufträge der Schulen. Piazolo solle Druck wegnehmen. Der Minister beschwichtigte: "Eltern sollen nicht die Aufgabe der Lehrkräfte ersetzen", antwortete er in sozialen Medien. Es gehe nur ums Wiederholen und vielleicht darum, etwas vorzubereiten, nicht um schulischen Unterricht.
Was Eltern daheim tatsächlich erleben, kommt auf die Schule und die Klassenlehrer an. Manche sagen, es kämen von mehreren Lehrern auf verschiedenen Kanälen so viele Arbeitsaufträge, dass es schwierig sei, den Überblick zu behalten.
Andere klagen über Unterforderung: Ihr Sohn habe in der ersten Woche genau zwei Arbeitsblätter erhalten, sagt eine Mutter. Von manchen Lehrern höre man gar nichts. In einer Internet-Petition fordern Eltern derzeit, den Kindern einfach freizugeben - auch, weil die Schulen unterschiedlich gut ausgestattet seien. Für die Schüler sei die "Fernbeschulung" deshalb nicht nur didaktisch schwierig, sondern auch unfair.
Und die Schüler machen sich Sorgen, vor allem die älteren, erzählt Alexander Löher. Der 17-Jährige besucht die elfte Klasse des privaten Neuhof-Pro-Gymnasiums in Obersendling und ist zudem Bezirksschülersprecher in Oberbayern-West, steht deshalb mit vielen anderen Schülern in Kontakt. Die Jüngeren fänden die Schließung eher cool, berichtet er: Für die sei das wie Ferien. In der elften Klasse dagegen hätten viele Angst, Grundlagen fürs Abitur zu verpassen. "Je länger die Schulschließung dauert, desto größer werden die Sorgen."
An seiner Schule laufe es halbwegs gut, findet Löher. Seine Klasse kommuniziere über E-Mails und das Programm Teams. Er bekomme Wochenpläne und könne sich die Zeit einteilen. Wie viel er tun müsse, sei unterschiedlich: Manche Lehrer würden viele Aufgaben stellen, um einen Rückstand im Lehrplan aufzuholen, sagt Löher. Andere seien "eher entspannt". Insgesamt verbringe er etwa drei Stunden täglich mit Lernen, also etwas weniger als sonst. Und es sei nicht immer einfach daheim, "wo meine Mutter und mein Vater rumspringen", beide arbeiten im Home-Office.
Vor allem neuen Stoff zu lernen, gelinge zu Hause nur mäßig, warnt Löher: Besonders schwierig sei es in Fächern wie Mathematik, in denen sich Verständnisfragen stellen. Lehrer sollten zwar zu den im Stundenplan für ihr Fach vorgesehenen Zeiten vor dem Rechner sitzen und Fragen beantworten. Es komme aber vor, dass eine Antwort erst nach mehreren Stunden komme. Effektives Lernen sei so schwierig.
Florian Zeindl sagt, er nehme während der Schulschließung keinen neuen Stoff durch. Die Schüler sollten die Zeit lieber nutzen, um bisherige Defizite aufzuholen. Das sei auch eine Frage der Gerechtigkeit. Nicht alle Schüler könnten beim Fernunterricht daheim gleichermaßen mithalten.
Das beginne bei der Situation in den Familien, sagt Zeindl: "Es ist fast unmöglich zu überprüfen, ob Schüler die ihnen aufgetragenen Arbeiten wirklich erledigen." Die Lehrer seien auf die Mithilfe der Eltern angewiesen, aber besonders an der Mittelschule hätten diese oft kein Interesse oder selber nicht die nötigen Kompetenzen. Hinzu komme: "Nicht jeder hat einen PC mit Drucker", sagt Zeindl. Doch für "Mebis" sei ein PC gut, eine Handy-App gebe es nicht. "Manche Schüler haben daheim auch kein Internet, nur ihr Handy, aber da ist das Datenvolumen irgendwann aufgebraucht. Diese Schüler würde ich verlieren."
"Wenn die Krise überwunden ist, muss es eine grundlegende Diskussion geben"
Die BIS hat solche Probleme nicht. Jeder Schüler ab der vierten Jahrgangsstufe erhält hier ein Schul-Tablet, ab der siebten einen Leih-Rechner. Jedes Kind bekommt eine E-Mail-Adresse der Schule. Und eine eigene Abteilung der Schule kümmert sich um die Technik. Sie würden ihre Erfahrungen gerne teilen, sagt die Direktorin.
Die öffentlichen Schulen seien dagegen sehr unterschiedlich gerüstet, sagt Florian Zeindl vom MLLV. Manche seien neu oder frisch saniert und gut ausgestattet. Andere nicht: "Wenn es im ganzen Haus nur zwei Computerräume gibt, ist es schwer, den Umgang mit Mebis und Computern allgemein zu üben." Vielen Lehrern und Schülern falle der plötzliche Schritt ins Digitale deshalb schwer. Womöglich könne die Corona-Krise hier etwas anstoßen. Es müssten endlich flächendeckend digitale Plattformen bereitgestellt werden, Lehrer und Schüler müssten im Umgang mit diesen geschult werden. "Wenn die Krise überwunden ist, muss es eine grundlegende Diskussion geben", sagt Zeindl. "Wir können nicht so weiterarbeiten wie bisher."