Bundestagswahl:Der Geigerzähler

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Anton Hofreiter, Fraktionschef der Grünen im Bundestag und Direktkandidat aus Sauerlach, hat eine Mission

Von Martin Mühlfenzl, Sauerlach

Plötzlich ist er weg, der Toni. Nur noch ein Rauschen funkt aus der Leitung. Aber er hat ja schon vorher gewarnt, dass die Verbindung abbrechen könnte - dort auf dem flachen Land in Ostfriesland, wo sich am Horizont die Windräder rasend schnell drehen. Eigentlich ist das ein Landstrich, der Anton Hofreiter, 47, ein Lächeln ins Gesicht zaubern müsste. Natur satt gepaart mit einer der Technologien der Zukunft. Als der Sauerlacher Bundestagsabgeordnete der Grünen ein paar Minuten später zurückruft, ist aber sofort klar, dass er sicher nicht lächelt. "Die Merkel regt mich so auf", dröhnt es durchs Telefon. "Die redet immer von Netzausbau und Digitalisierung, und alle zwei Minuten bricht alles zusammen." Und weil der Fraktionschef der Grünen im Bundestag gerade in Fahrt ist, legt er nach, gegen einen seiner Lieblingsgegner: "Und dann dieser Dobrindt. Nennt sich Minister für digitale Infrastruktur und steckt jeden Euro in die Straße." Es wäre nicht verwunderlich, wenn sich die ostfriesischen Windräder durch diesen stürmischen Ausbruch noch ein wenig schneller drehen würden.

Da tourt derzeit einer durch die Republik, der eine klare Mission hat. Als die Mitglieder der Partei Anfang des Jahres Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir in ihrer Urwahl zum Spitzenduo für den Bundestagswahlkampf bestimmten, war vielen schnell klar, dass zwei sehr ähnliche Typen - Realos obendrein - grüne Inhalte zu vertreten hätten. Böse Zungen behaupten gar, zwei politisch weichgespülte Sprechautomaten würden durch einen blassen Wahlkampf stolpern. Hätte die Bundespartei bei der Urwahl nur die Mitglieder im Landkreis München gefragt, wäre das Ergebnis - Hofreiter landete hinter Özdemir und Robert Habeck aus Schleswig-Holstein nur auf Rang drei - anders ausgefallen. Markus Büchler, grüner Kreisrat aus Oberschleißheim, vermutete nach Hofreiters Niederlage, dass dessen Herkunft eine Rolle gespielt habe: "Manch einer an der Basis hat sich gedacht: Mit einem Bayern wird es schwer im Bundestagswahlkampf."

In seiner Heimat indes verehren sie ihren "Toni" regelrecht. Vor allem aber nehmen sie ihn so, wie er ist: Manchmal ein wenig hemdsärmelig, aufbrausend kann er sein, aber auch sehr nahbar und locker. Wer den Politiker Hofreiter gewissermaßen in seiner natürlichen grünen Umgebung erleben will, sollte ins Eine-Welt-Haus an der Münchner Schwanthalerstraße kommen, wenn dort der Kreisverband zu einem seiner monatlichen Treffen lädt. Die entwickeln sich meistens eher zu gemütlichen Familienzusammenkünften, bei denen der nach Berlin Entschwundene über die wichtigsten bundespolitischen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit berichtet. Und zwar so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Anton Hofreiter ist in Sauerlach sozialisiert worden, der Gemeinde im Süden des Landkreises mit gerade mal 8000 Einwohnern, in der es die Jugend entweder in den Fußball- oder Handballverein, zur Jungen Union oder in die Natur treibt. Für die Grünen ist es ein Glücksfall, dass sich "der Toni" für letztere Variante entschieden hat. Als er 16 war, sagt Hofreiter, habe ihm sein Vater einen Geigerzähler in die Hand gedrückt, kurz nach der Explosion des Kernkraftwerks Tschernobyl im Frühjahr 1986. Erschrocken sei er, als das Messgerät im heimischen Garten heftig ausschlug - aber es war für ihn auch ein einschneidendes Erlebnis. Nach dem Abitur sei die Entscheidung schnell gefallen, Biologie zu studieren, es folgte eine Karriere an der Uni, ehe er 2005 erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Dort hat Hofreiter, der vielmehr Pragmatiker denn begnadeter Strippenzieher ist, eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Sein Aufstieg bis zum Fraktionsführer hat viele Beobachter außerhalb und in der eigenen Partei überrascht - anfangs. Ein Bayer, der das auch nicht verbergen will oder kann, der Vollbart, die lange Mähne. Das Bild eines Grünen, der wie aus der Zeit gefallen wirkt und an die Gründungsphase der Partei erinnert. Rein äußerlich. Denn inhaltlich ist der Sauerlacher mittlerweile das unumstrittene Gewissen seiner Partei und der reinste Gegenentwurf zum Realo und Autolobbyisten Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs grünem Ministerpräsidenten. Zu Hofreiters liebsten Terminen und Auftritten gehören die Lesungen aus seinem Werk "Fleischfabrik Deutschland", in dem er detailliert und aufrüttelnd beschreibt, welche Auswirkungen die Massentierhaltung hat und wie sie "unsere Lebensgrundlagen zerstört".

Wer etwas bewegen will, der braucht Aufmerksamkeit. Das weiß auch Hofreiter, der die sozialen Medien schon längst für sich entdeckt hat - und ihre Wirkung kennt. Ein Coup ist ihm mit einer sehr ernst gemeinten Reise gelungen, die ihn in die Arktis nach Grönland führte - und ihm auch nahe ging. "Da stehst du auf 40 000 Jahre altem Eis und das schmilzt dir unter dem Arsch weg", sagte er nach seiner Rückkehr. Die Bilder vom Naturschützer im nicht mehr ganz so ewigen Eis waren nicht weniger beeindruckend als seine Wortwahl. Wie auch der Auftritt auf dem Bundesparteitag im Juni in Berliner Velodrom. Der Kopf hochrot und innerlich geladen steht Hofreiter auf der Bühne, hinter ihm erstrahlt auf der Leinwand ein Eisbär - und der Fraktionschef tobt. Er drischt verbal auf Trump ein, auf die Kanzlerin und deren "Verweigerungshaltung" beim Klimaschutz, auf VW. Anton Hofreiter rockt und die Delegierten applaudieren mehrmals stehend. Manch einer wird daran gedacht haben, ob er bei der Urwahl nicht doch falsch abgestimmt hat. "Wir wollen regieren, um zu verändern", brüllt Hofreiter, dem sein Mandat dank Platz zwei auf der bayerischen Landesliste sicher ist.

© SZ vom 11.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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