"Was wäre", fragt Karl Ulrich, Geschäftsführer des Süddeutschen Verlags und Vorsitzender des SZ-Spendenhilfswerks, "wenn es in unserer wohlhabenden Stadt keine notleidenden Menschen gäbe?" Dann, so könnte man antworten, gäbe es vielleicht dieses Konzert nicht. Doch dieses gibt es, weil es notwendig ist, weil, wie Ulrich weiter ausführt, die Not auch in München immer sichtbarer wird, weil ältere Menschen ungeheuer viel Energie aufwenden, um zu vertuschen, dass sie sich viele Dinge gar nicht leisten können, weil Menschen Schicksalsschläge erleiden und dann materiell hilflos sind, weil Kinder nicht mehr die Ausbildung, auch in musikalischer Hinsicht, bekommen, die ihnen zusteht.
Um diese Not zu lindern, gibt es den Adventskalender der Süddeutschen Zeitung . Und damit dieser helfen kann, wo Hilfe nötig ist, werden Spenden gesammelt. Wie hier in der Isarphilharmonie, wo das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) sein Benefizkonzert gibt; inzwischen eine lange Tradition, die Mariss Jansons, dem 2019 verstorbenen Chefdirigenten des BRSO, so am Herzen lag. Die Einnahmen kommen dem Adventskalender ohne Abzug zu Gute, und die dürften beträchtlich sein, der Saal ist voll.
Vor einem Jahr war dieses Konzert, obwohl statt der 1800 Karteninhaber wegen der Corona-Bestimmungen nur 450 zugelassen waren, ein Staatsakt. Es war damals das erste Konzert, das Sir Simon Rattle beim BRSO dirigierte, nachdem er als dessen künftiger Chef (von 2023 an) designiert war. In diesem Jahr ist es einfach ein herausragendes Konzert, wobei einfach nicht so einfach ist, dazu gleich. Auf jeden Fall bewahrheitet sich der lustige Satz von Karl Ulrich: "So gut und schön wir in der Süddeutschen Zeitung sind, der Bayerische Rundfunk kann so etwas besser."
Geplant war, dass Zubin Mehta das Konzert dirigiert. Doch dem 86-Jährigen geht es gesundheitlich nicht gut genug für diese Aufgabe, schweren Herzens sagte er ab. Daniel Harding springt ein, kommt am Morgen des Konzerts in München an, probt den ganzen Tag. Er tue dies, wie er sagt, Mariss Jansons zu Ehren und weil er daran mitwirken wolle, notleidenden Menschen zu helfen. Harding, Jahrgang 1975, verbindet mit dem BRSO eine lange und großartige Geschichte, nicht wenige im Orchester können sich sehr gut vorstellen, mit ihm, dem genialischen, umwerfend freundlichen Dirigenten dereinst irgendwann auch als Chef zu arbeiten, "er ist ja noch jung", hört man von Musikern.
Und so beginnt das Konzert mit einem überschäumenden Fest der Freude. Nur Richard Strauss ist auf dem Programm, es beginnt mit der "Don Juan"-Tondichtung, aus der Harding tatsächlich eine musikalische Erzählung formt, die vom Mythos des großen Schwerenöters kündet, von lendenweicher Sehnsucht und triumphaler Männlichkeit. Alles ist unfassbar elastisch und elegant musiziert, bis der alte weiße Mann, um den es hier geht, in fahlen und faulen Klängen zusammensackt.
Nach diesem unmittelbar packenden Drama folgt auf den jungen der alte Strauss, die "Vier letzten Lieder", die man, um dies gleich zu sagen, kaum je so schön gehört hat. Sarah Wegener singt fabelhaft; man versteht jedes Wort, sie beherrscht die hochdramatischen Ausbrüche genauso selbstverständlich wie das intime, fast Gesprochene. Wie sie im dritten Lied zu einer Lebensabschlussschlichtheit verführt, wie hier das "Schlafengehen" als herrlichster Wunschtraum erscheint und Anton Barakhovsky dazu die Sologeige spielt, das ist überirdisch traumhaft schön. Nach der Pause dann das semiphilosophische Gerumpel des "Zarathustra", hier eine Manifestation des umfassenden Könnens des Orchesters, das durch nichts zu erschüttern ist. Die Klangerzählung, und das ist wieder ganz fabelhaft, findet bei Harding keinen Abschluss, sie verhallt offen, bleibt am Ende mehr Frage als Antwort, und so kommt man wieder zum Anlass dieses Konzerts zurück, denn die Notwendigkeit, notleidenden Menschen zu helfen, kommt nie zu einem Abschluss.