Missbrauchsvorwürfe:Staatsanwaltschaft stellt Piusheim-Ermittlungen ein

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Das ehemalige katholische Piusheim in der Gemeinde Baiern bei Glonn beherbergt heute eine Privatschule. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Sexpartys und Zwangsprostitution im katholischen Jugendheim? 2020 wurden Missbrauchsvorwürfe gegen das Piusheim in der Nähe von München bekannt. Doch nun wurden die Untersuchungen beendet. Eine Betroffeneninitiative sieht jetzt die Politik in der Pflicht.

Es waren schockierende Vorwürfe, die im Jahr 2020 bekannt wurden: Hat es in dem früheren katholischen Piusheim in Baiern im Landkreis Ebersberg schweren sexuellen Missbrauch gegeben? Sexpartys, Gewalt und Zwangsprostitution? Diese Fragen werden nun womöglich nie geklärt werden, denn die Staatsanwaltschaft München II hat die Ermittlungen im "Komplex Piusheim" eingestellt, wie die Deutsche Presse-Agentur erfuhr.

Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft sagte auf Anfrage: "Nach Durchführung der Ermittlungen, insbesondere nach Vernehmung zahlreicher Zeugen sowie nach Auswertung der seitens des Erzbistums München und Freising übergebenen Unterlagen, hat sich kein Anfangsverdacht gegen eine konkrete Person ergeben." Die Ermittlungen, die sich gegen unbekannt richteten, seien deshalb bereits im August dieses Jahres eingestellt worden.

Der Vorsitzende der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, der bei Bekanntwerden der Vorwürfe von einer "höllischen Einrichtung" gesprochen hatte, fordert nun eine Untersuchungskommission im Landtag - "um die Akten zu sichern, Zeugen zu befragen und die Vorgänge in diesem und gegebenenfalls weiteren Heimen aufzuklären, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden".

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Die Betroffenen hätten "sich über die Jahre immer wieder bemüht, eine Aufarbeitung in Gang zu bringen, die den Namen verdient", so Katsch. Die eigens von der Erzdiözese eingerichtete ehrenamtliche Aufarbeitungskommission sei mit dieser Aufgabe "offensichtlich überfordert".

Die Fälle sollen bis in die 1950er-Jahre zurückreichen

Ausgelöst hatte die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zum Piusheim ein Prozess am Landgericht München II im Frühjahr 2020. Ein Großvater, der wegen jahrelangen und massenhaften schweren Missbrauchs an seinen Enkeln und deren Freunden zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt worden war, hatte vor Gericht ausgesagt, als Jugendlicher in dem Erziehungsheim der katholischen Kirche schwer missbraucht worden zu sein. Er sprach von Sexpartys und Prostitution und, dass ein Mitschüler sich in dem Heim das Leben genommen habe.

Ein Priester habe eine "Bude" in München gehabt. Er habe sich Jungs ausgesucht, die mit ihm dorthin fahren und miteinander Sex haben mussten, während der Priester zusah. "90 Prozent der Jungen gingen am Wochenende los und beklauten die Dorfbewohner, zehn Prozent fuhren zum Anschaffen nach München." Der Vorsitzende Richter führte in seiner Urteilsbegründung damals aus: Der Angeklagte habe eine "desaströse Kindheit" erlebt, die ihm "ein völlig abseitiges Wertesystem" vermittelt habe.

Die Ermittlungen richteten sich zunächst gegen einen früheren Erzieher des ehemaligen Jugenddorfes Piusheim, das 2006 geschlossen worden war, und gegen einen Geistlichen. Beide wurden aber nicht konkret namentlich benannt. Später wurde öffentlich, dass dem Erzbistum München und Freising von 2010 bis 2020 neun Verdachtsfälle wegen sexueller Übergriffe oder körperlicher Gewalt gemeldet wurden, die sich im Piusheim ereignet haben sollen; bis auf einen waren diese zuvor nicht an die Öffentlichkeit gelangt.

Nach Angaben der Katholischen Jugendfürsorge hatten sich all dies Fälle von den 1950er-Jahren bis Mitte der 1970er-Jahre ereignet. Im Piusheim wurden Buben betreut, die als "schwer erziehbar" galten. Sie waren zwischen sechs und 18 Jahre alt, wobei die meisten älter als 14 Jahre waren.

Wünscht sich mehr staatliches Engagement bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen: Matthias Katsch, Sprecher des gemeinnützigen Vereins "Eckiger Tisch", der sich für Betroffene von sexueller Gewalt speziell im Umfeld der Katholischen Kirche einsetzt. (Foto: Robert Haas)

Als die Vorwürfe bekannt wurden, forderte der damalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, den Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, in einem persönlichen Brief dazu auf, jenseits der Strafverfolgung auch die schon verjährten Fälle im Piusheim aufzuarbeiten. Nach diesen Schlagzeilen - von einem "zweiten Ettal" war mit Blick auf die Missbrauchsfälle in dem oberbayerischen Kloster Ettal die Rede - kontaktierten mehrere weitere mutmaßlich Betroffene die Staatsanwaltschaft und das Erzbistum.

Auch bei der Initiative "Eckiger Tisch" meldeten sich nach Angaben des Vorsitzenden Matthias Katsch zwölf Betroffene und zwei ehemalige Mitarbeiter der Einrichtung. "Die Informationen sind in die polizeilichen Ermittlungen eingeflossen, die jetzt nicht weiterverfolgt werden", sagt Katsch. "Leider konnten wir die Aufklärung darüber hinaus nicht weiter vorantreiben."

Er sieht den Ball jetzt bei der Staatsregierung und forderte: "Es sollte dringend in Bayern die Anlaufstelle für ehemalige Opfer der Heimerziehung weitergeführt und verbessert werden." In der Einstellung des Verfahrens sieht Katsch "die Unzulänglichkeit unseres Rechtssystems" und fordert "eine gesetzliche Grundlage für die Untersuchung und Aufarbeitung solcher Vorgänge", die oft an der Verjährung scheitert. "Das sind wir den Opfern schuldig."

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