Medizin:ARVC-Kranke leben mit einer ständigen Bedrohung

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Ruth Biller ist Vorsitzende der Selbsthilfegruppe für die Erkrankung ARVC. (Foto: Robert Haas)

Erst der DNA-Test brachte Gewissheit: Ruth Biller hat ihre Tochter wegen einer seltenen Herzkrankheit verloren. Auch ihr Mann und ihr Sohn leiden an dem Gendefekt.

Von Gudrun Passarge, Unterschleißheim

Ein quälend langes Jahr hat es gedauert, bis Familie Biller die Ursache erfahren hat, warum ihre Tochter Judith mit 14 Jahren so plötzlich gestorben ist. Die Diagnose lautete: ARVC. Arrhytmogene rechtsventrikuläre Cardiomyopathie ist eine seltene Krankheit, die meist erblich bedingt ist. Die Billers ließen sich danach testen. Das Ergebnis: Vater Albert und Sohn Manuel weisen ebenfalls diese Gen-Mutation auf. Das Leben der Familie hat sich damit seit Judiths Tod zum zweiten Mal verändert.

2013 gründete Ruth Biller, selbst Ärztin, zusammen mit anderen eine Selbsthilfegruppe. Dort setzt sie sich seither nicht nur für einen Austausch der Betroffenen und ihrer Angehörigen ein, sondern auch für Beratung - und vor allem dafür, die Krankheit bekannter zu machen. Das war auch ein Ziel beim ARVC-Symposium des Bayerischen Rundfunks am vergangenen Wochenende.

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Kerzen, Weidenkätzchen, eine weiße Rose, ein Sterbebild - für Judith gibt es ein Gedenkeck neben dem Esstisch der Familie. Sie starb 2011 im Urlaub in Italien nach einem Fußballspiel mit Vater und Freunden. Die Familie wollte eine Obduktion. "Wir mussten wissen, woran Judith gestorben ist", sagt ihre Mutter. Bei der Obduktion wurde eine Herzmuskelentzündung festgestellt, eine der häufigsten Fehldiagnosen, wie Ruth Biller sagt.

Erst der DNA-Test brachte Gewissheit. Eine Mutation war verantwortlich für Judiths Tod. Bei ARVC werden Herzmuskelzellen zerstört und durch Fett- oder Bindegewebe ersetzt. Das führt zu Störungen der Reizleitung mit unterschiedlichen Folgen. Bei manchen bricht die Krankheit nicht aus, bei anderen treten Herzrhythmusstörungen und Bewusstlosigkeit auf, im schlimmsten Fall führt es zu Kammerflimmern und plötzlichem Herztod.

Da diese Krankheit meist erblich bedingt ist, ließ sich auch der Rest der Familie untersuchen. Biller berichtet, dass es "oft eine riesige Odyssee ist, bis man die richtige Diagnose bekommt". Sie selbst hat das Gen nicht, ihre Tochter Anja auch nicht, aber ihr Sohn und ihr Mann müssen mit ARVC leben. Beide haben sich bald nach der Diagnose einen Defibrillator implantieren lassen. Genauso wie ihr Neffe. Der junge Mann habe keine Symptome gehabt, deswegen sei es eine schwierige Entscheidung gewesen, ob er einen Defibrillator braucht oder nicht. Aber vor Kurzem sei ihr Neffe bewusstlos zusammengebrochen, erzählt Ruth Biller. Er kam ins Krankenhaus, dabei wurde festgestellt, dass er ein Vierteljahr zuvor schon mal im Schlaf einen Defibrillator-Schock bekommen hatte, der ihm wohl das Leben rettete. Er habe davon gar nichts mitbekommen. "Er hat sich immer gesund gefühlt."

Eine Kleinigkeit genügt und die Angst kommt wieder

Das Leben mit der Krankheit ist für Betroffene und Angehörige nicht leicht. Die Familie lebt monatelang ein normales Leben, "soweit das nach dem Tod eines Kindes möglich ist", schränkt Biller ein. Doch seit der Diagnose genügt oft schon eine Kleinigkeit, um Ängste heraufzubeschwören. Erst jüngst hatte der Sohn, der mittlerweile in Würzburg studiert, sein Handy vergessen. Er war stundenlang nicht erreichbar. "Mein Mann war schon so weit, dass er die Tasche packen und hinfahren wollte." Auch die Entscheidung des Sohnes, Basketball zu spielen, sieht sie ambivalent. Sport, so sagt die Frauenärztin, könnte die Krankheit beschleunigen und verschlimmern. Aussagekräftige Studien stehen zwar noch aus, aber: "Leistungssport ist absolut verboten."

Als Vorsitzende der Selbsthilfegruppe bekommt Ruth Biller viele Anrufe, auch aus der Schweiz und aus Österreich, denn die ARVC-Gruppe ist die einzige im deutschsprachigen Raum. Sport ist bei vielen Anrufern ein großes Thema, aber auch die Frage, Defibrillator ja oder nein. Oft geht es auch darum zu erfahren, wo gute Behandlungen möglich sind und welche Reha-Einrichtungen sich mit der Krankheit auskennen. Die 53-Jährige hat sich inzwischen ein Netzwerk aufgebaut. Sie kennt Ärzte in München und in Münster, an die sie die Fragen weiterleiten kann.

Und sie arbeitet seit Kurzem in einem Patientennetzwerk mit, das dem europäischen Referenznetzwerk für seltene Herzerkrankungen angegliedert ist. "Es ist ein Riesengewinn, sich mit solchen Leuten, die schon viel weiter sind als wir, auszutauschen und von ihnen zu lernen", sagt sie über die Vertreter der Patientenorganisationen aus anderen Ländern. Vor allem verfügten diese Organisationen über Spendengeld, das sie dann teilweise der Forschung zur Verfügung stellen.

Biller hat klare Ziele, was sie mit der Selbsthilfegruppe erreichen will. Sie möchte, dass schon Medizinstudenten etwas über ARVC erfahren, dass jeder Kardiologe die Krankheit kennt und an kompetente Zentren überweisen kann, dass Ärzte hellhörig werden, wenn es in der Familie Fälle von plötzlichen Herztod gibt, dass ARVC-Patienten auch psychologisch betreut werden, dass es ein deutschlandweites Register gibt und dass die Krankenkassen bei plötzlichem Herztod die Kosten der Obduktion und genetischen Untersuchung tragen.

Das ist längst noch nicht alles. "Wir wollen jetzt politisch werden und versuchen, an höheren Stellen etwas zu erreichen." Ihre Fachkenntnisse als Medizinerin seien ein Vorteil, sagt Biller, so werde sie nicht nur als Vertreterin einer Selbsthilfegruppe wahrgenommen. Andererseits kann sie als Angehörige anderen Betroffenen helfen. "Wir wollen Ängste nehmen und Mut machen", sagt sie.

Weitere Infos unter www.arvc-selbsthilfe.org

© SZ vom 26.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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